Die kleine Insel unserer Fantasie. Susanne Zeitz
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Die Mainaukönigin? Ich wusste, dass die gräfliche Familie oben im Schloss wohnte, aber dass es hier eine Königin gab, davon hatte ich noch nie etwas gehört. Wohnte sie auch hier im Schloss? Nein, nein, meinte die alte Dame lächelnd. Ich dürfe jetzt etwas nicht verwechseln. Diese Königin wäre mit unseren irdischen Augen nicht erkennbar. Man könne sie nur mit den geistigen Augen sehen, auch würde sie in keinem Schloss aus Stein wohnen. Ihr Zuhause wäre in der Natur zu finden. Ob sie auf Bäumen, im buschigen Blättergeäst oder in den Blütenkelchen wohnen würde, das wüsste sie nicht zu sagen. Nun verstand ich, was sie meinte. Es bestätigte mir, was ich schon lange vermutete, was ich immer meinte, auf der Mainau zu spüren und zu empfinden. Sie sprach von einer Blumenfee, einer Blumenkönigin! Wo genau sie sie denn gesehen habe, fragte ich. Im Rosengarten habe sie dieses wunderschöne Wesen sehen dürfen, aber es sei nur für einen kurzen, flüchtigen Moment gewesen: Eine anmutige, zarte Erscheinung mit langen Haaren und seidigen, bunten Gewändern, nicht greifbar und doch eine sichtbare Gestalt. Es gäbe auch eine Geschichte dazu, ob ich sie hören wolle? Aber ein wenig Zeit müsse ich mitbringen, denn es gäbe einiges zu berichten. Gerne wollte ich hören und so begann sie zu erzählen:
"Einst lebte in einem fernen Land ein schon älteres Königspaar, dem nach langem Sehnen und Hoffen endlich ein Kindlein geschenkt wurde. Als die glückliche Mutter ihr Baby aus der Wiege nahm, stellte sie mit Entsetzen fest, dass auf dem Rücken des Kindes kleine, zarte Flügel gewachsen waren. Aufgeregt ließ sie sofort nach dem Leibarzt des Königs schicken. Erstaunt blickte er auf das Kind. Viele kleine Kinder, so meinte er, besäßen am Anfang noch ihre geistigen Flügel, natürlich unsichtbar, da sie mit der geistigen Welt noch verbunden waren. Echte materielle Flügel aber habe er bei einem Menschenkind noch nie gesehen. Was dagegen zu tun sei, wisse er nicht, auch kenne er keine Medizin, die die Flügel zum Verschwinden brächte.
Vielleicht sei ihnen ja auch eine kleine Fee geschenkt worden. Wer weiß, wer weiß? Da wurde die Königin ärgerlich und schickte den Arzt mit dem Befehl weg, ja nichts von den Flügeln verlauten zu lassen. Von solchem Unsinn wollte sie nichts hören. Sie würde schon dafür sorgen, dass mit dem Kinde alles seinen normalen Lauf nehmen würde. Dass ihr Kind anders war, dass es vielleicht für ein anderes Leben bestimmt war, wollte sie nicht sehen und nicht wahrhaben. Die Flügel würde sie durch fest anliegende Leibbinden bedecken, so wären sie nach außen hin nicht sichtbar und könnten auch nicht weiter wachsen und größer werden. Vielleicht würden sie auch schrumpfen und wären irgendwann einfach nicht mehr vorhanden! Das wäre ja noch schöner! Diesen Schönheitsfehler würde sie aus der Welt räumen. Schließlich war sie die Königin!
So wuchs die Prinzessin heran. Behütet, geliebt und mit den schönsten Gewändern aus Samt und Seide bekleidet. Doch unter ihrem Rock sorgten die engen Leibbinden dafür, dass die Flügel unsichtbar blieben. Schwer trug das Mädchen an dieser Bürde. Zwar hatte sie ihre Flügel nie gesehen, doch spürte sie, dass sie anders war als ihre Spielkameraden und ihre Eltern. Sie fühlte sich fremd, als gehöre sie nicht in den Palast und auf diese Erde. Am liebsten hielt sie sich im Schlossgarten auf, wo sie täglich die alten Bäume besuchte oder stundenlang im königlichen Rosengarten verweilte. Hier fühlte sie sich frei und glücklich, vor allem, wenn ihr die Bäume mit ihren tiefen Stimmen Märchen aus längst vergangener Zeit erzählten, oder wenn ihr die Rosen mit zartem Wispern von ihren kleinen und großen Sorgen und Nöten berichteten. Dann wurde es ihr leichter um das kleine Herz, die schweren Gewänder waren nicht mehr ganz so schwer und das Palastleben mit seiner Strenge und Etikette rückte in weite Ferne. Ihren Eltern konnte sie ihre Nöte nicht anvertrauen, zu sehr waren sie mit irdischem Tand und höfischem Zeremoniell beschäftigt. Sie waren sehr stolz auf ihre schöne Tochter und planten für die Zukunft eine große Hochzeit mit einem reichen, stattlichen Prinzen."
Hier machte die alte Dame eine Pause und schwieg.
Aufgeschreckt durch die plötzliche Stille, die sich nun zwischen uns gesetzt hatte, erwachte ich aus dieser Märchenwelt. Wie ging es weiter? Ich wollte mehr hören! Hoffentlich hatte meine Erzählerin nicht den Faden verloren oder gar den weiteren Verlauf der Geschichte vergessen!
Sie müsse nur ein wenig Atem holen, eine kurze Pause machen, meinte sie. Gleich würde sie mit der Erzählung fortfahren. Ob ich noch weiter hören wollte?
Natürlich wollte ich und so fuhr sie fort zu berichten:
"Eines Tages, es war am Vorabend ihres achtzehnten Geburtstages, war die Prinzessin traurig in den Park zu ihren geliebten Bäumen geflohen, denn im Schloss war ein emsiges Tun und Treiben ausgebrochen: Der Koch, der Schneider, der Sekretär des Königs, der Hofnarr, kurzum der gesamte Hofstaat lief aufgeregt treppauf und treppab, um Vorbereitungen für den großen Ball zu treffen, der ihr zu Ehren stattfinden sollte. An diesem Abend würde ihre Verlobung mit dem Prinzen des Nachbarreiches verkündet werden. Voller Stolz und Freude erwartete das alte Königspaar dieses Fest, voller Verzweiflung klagte die Prinzessin ihrer Freundin, einer uralten Eiche, ihr Leid. Sie könne für den künftigen Gemahl keine Liebe empfinden, sie wolle nicht mehr im steinernen Palast leben. Sie könne all den Reichtum und die schweren Brokatgewänder nicht mehr ertragen!
Da erzählte ihr der alte Baum von einer Insel in einem großen See, weit weg von hier. Ein kleines Paradies, voller Pflanzen, Blumen, alter Bäume und vieler Tiere. Menschen aus allen Ländern dieser Erde kämen jeden Tag zu Besuch, spazierten im alten Park, lustwandelten im Rosengarten und erfreuten sich an ihrer Pracht. Dort wäre ihre neue, seit jeher bestimmte Heimat, ihr kleines Königreich. Ihre Aufgabe bestünde darin, die Blumen, Bäume und Pflanzen zu hegen und zu pflegen. Unterstützung und Hilfe bekäme sie von den Elfen und Blumenfeen. Die Inselbewohner würden sie schon sehnlichst erwarten. Wenn sie dazu bereit wäre, müsste sie ihre irdischen Gewänder ablegen, ihre Eltern, das Schloss und ihre Freunde, kurzum ihr ganzes bisheriges Leben verlassen und sich auf eine weite Reise begeben. Voller Freude hatte die Prinzessin der alten Eiche zugehört. Tief in ihrem Herzen spürte sie, dass diese Insel der Ort ihrer Seele, ihre wahre Heimat war. Traurig, weil sie sich von ihren Eltern und Freunden trennen musste, stimmte sie trotzdem der Reise zu. Da schickte sie der Baum in den Rosengarten. Dort wurde sie schon erwartet. Aufgeregte Stimmchen hier und dort. Alle Rosen wollten sich von ihr verabschieden, denn die Schmetterlinge hatten ihnen schon die Kunde ihres Weggehens gebracht. Als sie sich zu den einzelnen Blütenköpfchen niederbeugte, blieb sie mit ihren Gewand plötzlich an den spitzen Dornen einer großen, stattlichen Buschrose hängen. Es gab einen unsanften Ruck. Das Kleid und mit ihm die Leibbinde rissen mitten entzwei und glitten an ihren Beinen entlang zu Boden. Erschrocken bückte sich die Prinzessin nach ihrem Kleid, um es aufzuheben. Da spürte sie an ihrem Rücken eine zarte Bewegung. Ihre kleinen Flügel begannen nun, frei von jeglichem Druck, zu wachsen. Auf einmal hob sie sanft vom Boden ab. Höher und höher trugen sie ihre Flügel in die Unendlichkeit des blauen Himmels. Sie sah unter sich den Park mit den alten Bäumen, ihre geliebten Rosen, das Schloss ihrer Eltern immer kleiner und kleiner werden. Schließlich verschwand ihr altes Leben in den Wolken. Sie aber flog der Sonne entgegen. Je weiter sie sich von der Erde entfernte, desto leichter und glücklicher fühlte sie sich. Voller Vertrauen gab sie sich ihrem Flug hin. Mal boten ihr die Wolken einen Ruheplatz, mal wurde sie von den Sturmgeistern im wilden Spiel und Übermut mitgerissen, dann wieder wurde sie von großen Wandervögeln im warmen, weichen Gefieder mitgetragen. Es war einfach herrlich! Wie lange die Reise dauerte, wusste die Prinzessin nicht zu sagen. Sie hatte alle Zeitbegriffe verloren. In ihrem neuen Dasein gab es keine Stunden, keine Minuten mehr. Dann, irgendwann sah sie