Die Einmischer. Thomas Wagner
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Über Ronald M. Schernikau: Die Revolution wäre für ihn das Unterhaltendste gewesen
Worum es geht
Wenn Literaturwissenschaftler Märchen erzählen, dann hört sich das so an: Es war einmal eine Zeit, in der sich die Schriftsteller ins politische Geschehen einmischten. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa sei dieses Engagement allerdings passé. Seitdem habe man sich nur noch gewundert, dass die Autoren der Linken fernblieben. Heute fehle selbst die Verwunderung darüber. Die Ursache der Misere sei schließlich darin zu suchen, »dass Links nicht mehr rockt«1. So will es der langjährige Juror und Juryvorsitzende des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises Burkhard Spinnen und findet mit dieser Argumentation ausgerechnet in dem rechtsgerichteten Romancier Thor Kunkel2 einen Geistesverwandten. Auch dieser meinte, jüngere deutsche Autoren meldeten sich heute kaum je zu Wort, wenn es um politische Fragen geht3. Kommentare zu wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen kenne er keine. Selbst die allesfressende und wiederkäuende Kulturmaschinerie werde kaum kritisiert. Jeder Fußballer, jede Viva-Moderatorin mische sich provokanter in die Tagespolitik ein als die Schriftsteller. Spinnen und Kunkel sprechen eine Ansicht aus, die unter Literaturwissenschaftlern, Feuilletonisten und selbst unter Autoren heute weit verbreitet ist.
Mit der Wirklichkeit hat all das Gerede vom Verstummen der engagierten Literatur heute freilich kaum etwas zu tun. Wer genau hinsieht, statt den kurzlebigen Literaturmoden zu folgen, die im Rhythmus der Buchmessen und Literaturpreis-Verleihungen alljährlich ausgerufen werden, erkennt bald: Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist die Literatur so breit und vielgestaltig engagiert wie schon lange nicht mehr. Jenseits von Pop-Literatur, Fräuleinwunder und einem sogenannten Neuen Feminismus melden sich Autorinnen und Autoren deutlich vernehmbar zu Wort, greifen Schriftsteller als kritische Intellektuelle kraftvoll und beherzt in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein.
Dabei schienen vor nicht allzu langer Zeit gerade jene Autoren die Diagnose vom Ende der engagierten Literatur zu bestätigen, die sich gegen den damals vorherrschenden Trend im klassischen Sinne demonstrativ parteilich zeigten und sich für den Wahlkampf der SPD einspannen ließen. Als Juli Zeh, Benjamin Lebert, Feridun Zaimoglu oder Durs Grünbein im Jahr 2005 einem Ruf von Günter Grass folgten und für die Wiederwahl des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) warben, wirkte das politisch eher einfallslos, angepasst, jedenfalls meilenweit entfernt von fortschrittlichen gesellschaftspolitischen Visionen. Die 1968 in Westberlin geborene Schriftstellerin Tanja Dückers vermisste bei ihren Kollegen damals einen utopischen Überschuss der Literatur, der auf nicht realisierte Möglichkeiten des Zusammenlebens verweist: »Wenn Literatur sich mit Politik beschäftigt, sollte sie nicht den Status quo bestätigen (dafür sind die Realpolitiker da), sondern den schlechten Ist-Zustand mit dem vergleichen, was möglich wäre. Gute Literatur verhält sich in diesem Sinne wie gute Musik: Sie transzendiert die Realität und vermittelt für einen Moment die Aussicht auf ein besseres Leben. Welche Utopie in der Unterstützung für Hartz IV liegen soll, ist hingegen völlig schleierhaft.«4
Auch eine im selben Jahr von der Wochenzeitung Die Zeit angeschobene Debatte über die Aufgaben des Romans schien die politische Harmlosigkeit der Gegenwartsliteratur nur zu bestätigen. Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm stellten ein »Manifest für einen Relevanten Realismus«5 vor, das sich gegen eine vermeintlich belanglose Gegenwartsliteratur positionierte, dabei aber selbst inhaltlich vage und politisch auffällig richtungslos blieb. Aber stimmte wenigstens die Diagnose des Positionspapiers? Mitnichten. Selbst unter den als infantile Pop-Literaten geschmähten Autorinnen und Autoren hatten zu diesem Zeitpunkt einige längst selbst Relevantes zu Papier gebracht. »Man denke etwa an Christian Krachts 1979 von 2001, an Juli Zehs Adler und Engel, ebenfalls von 2001, an Kathrin Rögglas wir schlafen nicht von 2004 oder an Doron Rabinovicis Ohnehin, ebenfalls von 2004.«6 Der Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler attestiert den Manifest-Autoren deshalb zu Recht eine »partielle Blindheit gegenüber dem zeitgenössischen Roman«7 .
Heute ist die engagierte Literatur nicht mehr »unmodern«, wie Alban Nikolai Herbst noch jüngst behauptete.8 Ein Großteil der professionell mit Literatur befassten Kulturarbeiter sieht das freilich noch anderes. Ursächlich dafür ist nicht zuletzt der Umstand, dass alle bisherigen Debatten um eine Renaissance der politisch engagierten Literatur in zweierlei Hinsicht defizitär waren. Zum einen stand die »klassische« Form des Romans im Mittelpunkt. Aktuelle politische Tendenzen im Bereich der Spannungsliteratur, des Krimis, der Science-Fiction, des Jugendbuchs oder der Poesie blieben ausgeklammert. Dabei war gerade hier längst zu finden, was im Gegenwartsroman vermisst wurde: die literarische Befassung mit brisanten politischen Themen. Das trifft auf die populären Politthriller eines Wolfgang Schorlau genauso zu wie auf die Jugendbücher Michael Wildenhains. Selbst die politische Lyrik ist auf die literarische Bühne zurückgekehrt, was die Rotbuch-Anthologie Alles außer Tiernahrung (2009) eindrucksvoll dokumentiert. Zum anderen war der Blick auf die Bücher selbst fokussiert. Kaum jemand fragte nach dem Engagement der Autoren als Intellektuelle. Dadurch erschien die Literatur deutlich unpolitischer, als sie es nach 1989 tatsächlich war. Gegenläufige Tendenzen blieben unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle.
Wer die Intellektuellen sind
Schriftsteller füllen heute zunehmend eine Leerstelle der demokratischen Öffentlichkeit: die des Intellektuellen, der sich für das Wohl des Gemeinwesens einsetzt. »Ein Intellektueller gibt politische Orientierung und erörtert öffentlich generelle Fragen.«9 Jean-Paul Sartre war es, der am 1. 10. 1945 die erste Ausgabe seiner Zeitschrift Les Temps Modernes mit dem Appell eröffnete, die Schriftsteller sollten Verantwortung übernehmen und für die öffentlichen Belange eintreten. »Der Hunger in der Welt, die atomare Bedrohung, die Entfremdung des Menschen – ich wundere mich, dass sie nicht unsere ganze Literatur färben«, konkretisierte er zwanzig Jahre später, was er von den Autoren erwartete.10 In Westdeutschland wandte sich die »Gruppe 47« zunächst gegen die Reste faschistischer Propagandasprache und den autoritären Untertanengeist im Adenauerstaat. Die Autoren protestierten gegen die Wiederbewaffnung und den Vietnamkrieg oder unterstützten die Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«. Später ging es um die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen, Atomenergie und die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen.
Die kritischen Interventionen von Heinrich Böll, Martin Walser, Günter Grass und Max Frisch beeinflussten im Westen das politische Bewusstsein ganzer Generationen. Bertolt Brecht erprobte mit seinem Theaterkollektiv in der DDR Elemente einer radikal demokratischen Gesellschaft, die auch im Realsozialismus noch ihrer Verwirklichung harrte. Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss und Brechts eingreifendes Denken beflügelten die Diskussionen auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs«. Als dieser 1989 fiel, schienen der Sozialismus und mit ihm die Zukunftshoffnungen vieler Intellektueller auf Nimmerwiedersehen ins Reich der Utopie verbannt. Manche Kommentatoren meinten, dass damit auch die Schriftsteller ihre Rolle als Kritiker der herrschenden Verhältnisse für immer eingebüßt haben würden. Die Figur des kritischen Intellektuellen galt als tot. Die Grabesrede hielten die französischen Poststrukturalisten. Von Deleuze über Foucault bis Baudrillard erklärten sie, wenig Sinn in dem Anspruch zu sehen, mit ihrer Deutungsarbeit für alle zu sprechen, wenngleich sie es selbst weiterhin taten.11
»In den 1990er Jahren pfiffen dann auch die kleineren intellektuellen Spatzen von den Flachdächern der Konzerne, die Zeit der Intellektuellen sei vorbei, ja sie hätten uns ins Unglück gestürzt mit ihren Utopien.«12 Auch die Strukturen der Öffentlichkeit haben sich in dieser Zeit dramatisch verändert. Die öffentliche Rolle des Schriftstellers stand in der Bundesrepublik Deutschland vor 1989 noch in enger Beziehung zum Bildungsauftrag