Die Einmischer. Thomas Wagner
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Ein Gespräch über Klassenkampf, Planwirtschaft, Lenin und Rosa Luxemburg.
Vielleicht sind Sie zurzeit der einzige Marxist unter den deutschen Schriftstellern. Welche Texte von Marx haben für Sie eine besondere Bedeutung?
Unverzichtbar finde ich die Feuerbachthesen, also dass es auf die Praxis ankommt. Am zweitwichtigsten ist die Klassengeschichte, also dass es eine Rolle spielt, wo ich im gesellschaftlichen Produktionsprozess stehe. Ich muss eine Praxis haben, und die spielt sich zwischen Gruppen ab, die in einem antagonistischen Widerspruch zueinander stehen, also Klassen. Im Vergleich dazu halte ich die Krisentheorie für verzichtbar. Die kann ich auch von einem bürgerlichen oder keynesianischen Standpunkt aus haben. Ich habe gerade ein Gespräch zwischen dem Schriftsteller H. G. Wells und Stalin über den New Deal gelesen. Wells hat im Juni 1934 eine ausgedehnte Welttournee hinter sich und erzählt, dass die Amerikaner sich ja jetzt auch langsam in Richtung Sozialismus bewegen. Stalin sagt: Alles gut und schön, aber sie werden niemals die Eigentumsverhältnisse ändern. Sie werden niemals etwas machen, was die Situation ändert, die das heraufbeschworen hat, was sie jetzt pflastern wollen. Insofern ist das so sinnlos wie Dem-eigenen-Schwanz-Hinterherrennen. Wells meint, dass doch alle etwas davon haben, wenn das marode System geflickt wird. An dieser Stelle bringt Stalin den Klassenstandpunkt rein und sagt: Einige hätten eben nichts davon, wenn das Ding grundlegend geändert wird, und das sind die, die am Steuer sitzen. Deshalb wird nichts passieren. Das hat damals gestimmt. Wäre ich noch bei der FAZ, hätte ich sicherlich eine schöne Glosse daraus machen können, wie H. G. Wells und Stalin sich über Obama unterhalten.
Keynes führt nicht weit genug. Aber ist zurzeit nicht eher zu wünschen, dass Obama überhaupt so weit kommt?
Keynes funktioniert am besten mit nacktem Imperialismus, mit Kriegswirtschaft. Deshalb wird mir jedes Mal mulmig, wenn Leute sagen, das sei die Lösung. Krankenhäuser-Bauen ist nur ein Teil dieses Ansatzes. Der viel effektivere Teil ist: Wir bauen Mordmaschinen. Die werden abgeschossen, und man baut mehr.
Was hat der Staat für Aufgaben im Kapitalismus? Im Grunde Polizeiaufgaben, und: die Märkte nach außen sichern. Er tritt als ideeller Gesamtknüppel auf. Wenn man diesem Staat sagt: Jetzt kannst du mal richtig in deine Rechte treten und eine gesamtgesellschaftliche Lösung anbieten, gibt es wahrscheinlich nicht mehr Schulen, sondern mehr Kloppe.
Sie treten für eine sozialistische Gesellschaft ein, in der die Wirtschaft demokratisch kontrolliert wird. Was sind die besten Argumente für die Planwirtschaft?
Das erste ist: Es wird schon geplant. Nur eben von ein paar Leuten, die aus Geld mehr Geld machen wollen. Die Vorstellung, dass einfach so drauflosproduziert wird, ist doch totaler Quatsch. Es gibt für alles, was man will, wenn man Planwirtschaft will, bereits Stummelformen. Die sind entlang von so etwas wie Marktforschung organisiert. Sie nennen das: die Märkte vorbereiten.
Wenn so ein Plan im Kapitalismus dann nicht funktioniert, wird sichergestellt, dass die Gearschten die Zeche zahlen. Nehmen wir die Privatisierung des öffentlichen Verkehrs. Ein Unternehmen plant die Schließung bestimmter Strecken oder Haltestellen, die sich nicht rentieren, weil da zu wenig Leute stehen. Diese Leute wollen aber irgendwohin. Jemand muss den Transport bezahlen. In diesem Fall: die Leute selber. Es wird für den Bahnbesitzer profitabler, aber gesamtgesellschaftlich gesehen kostet es nicht weniger.
Das zweite Argument ist die Entwicklung der Produktivkräfte. Ein Argument gegen die Planwirtschaft war lange ihre Schwerfälligkeit. Heute sind die Intervalle, in denen sich die Produktion umstellen lässt, sehr kurz. Selbst Autos werden on demand bestellt. Die schwersten Schwerprodukte können kurzfristig umgebaut und geliefert werden.
Hat die Planwirtschaft nicht gerade erst die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten ruiniert?
Es wird gerne gesagt: Im Ostblock gab es keine Südfrüchte, keine Glühbirnen – das war eine Misswirtschaft, in der alles schiefging. Da ist zu fragen: Unter welchen Bedingungen – Produktivkräfte, Verkehrswesen und so weiter – wurde diese Wirtschaft entwickelt? Wenn man sich die Jahre 1920 bis 1935 anschaut, ist diese Leistung enorm. Man kann sagen: Das ist mit der Knute erreicht worden. Aber wenn ich den Kapitalismus mit seiner ursprünglichen Akkumulation auf dem Kreuz hätte, die wirklich mit einer harten Knute durchgezogen wurde, wäre ich ganz vorsichtig mit der Einschätzung, was Modernisierung kostet. Das ist alles nicht schön. Mitdem-Finger-Zeigen ist verboten.
Der zweite Punkt ist: Unter den Bedingungen eines Weltmarktes mussten eine Planwirtschaft und eine chaotische Profitwirtschaft miteinander in Verkehr treten, weil es nicht alles überall gibt. Da frage ich: Wem geht schneller die Puste aus, dem Chaoten oder dem, der mit dem Chaoten zu handeln versucht? Außerdem kann der Chaot den von ihm Abhängigen jederzeit sagen: Wenn ihr nicht macht, was ich Chaotisches von euch will, verliert ihr eure Wohnung und so weiter. Das kann der verlässliche Aktenkoffermensch, der mit ihm verhandelt, nicht. Da gucken wir mal, wer wen fertigmacht.
Weil die DDR-Wirtschaft zu unproduktiv war, wollte Walter Ulbricht sie in den Sechzigern etwas kapitalistischer einrichten. Moskau hat sich das verbeten.
Ich glaube in der Tat, dass jede Sternstunde und jede Blamage der DDR damit zusammenhängt, wie viel Spielraum ihr von den Russen gelassen wurde. Unabhängig von der Qualität der einzelnen Initiativen Ulbrichts nötigt es mir Respekt ab, dass er völlig klar gesehen hat, dass sein Spielraum über Nacht zusammenschnurren kann. Ob das Honecker noch klar war, weiß ich nicht.
Wenn Stalin ein gutes Angebot bekommen hätte, den DDR-Kram zu verkaufen, hätte er es gemacht. Er hat kein gutes Angebot bekommen. Gorbatschow hat dann irgendwann das bekommen, was er für ein gutes Angebot hielt. Ob es das war, wird er wahrscheinlich heute noch nicht wissen. Aber seinen Kopf sollten wir uns auch nicht zerbrechen.
Ulbricht hat einfach gesagt: Wir haben jetzt die DDR; ich weiß nicht, ob wir sie behalten können, aber wir versuchen, es so gut wie möglich zu machen.
Der Wettstreit zwischen Plan- und Privatwirtschaft war mit Ulbrichts Absetzung entschieden.
Ich finde es idealistisch zu sagen: Das war ein Wettstreit zwischen Plan- und Marktwirtschaft. Es war ein Wettstreit zwischen vielen Dingen, zum Beispiel einem halbfeudalen Land, das plötzlich Industriestaat geworden war, und einem riesigen Inselkontinent, der niemals einen Weltkrieg auf eigenem Boden erlebt hatte. Wenn wir früher das Würfelspiel »Axis & Allies« gespielt haben, das den Zweiten Weltkrieg simuliert, wurde jedes Mal klar: Die Amerikaner brauchen wahnsinnig lange, bis sie überhaupt in den Krieg reinkommen. Sie müssen erst das ganze Material produzieren und über den Ozean schaffen. Das hat den Nachteil, dass sie sich erst spät einmischen können. Und den Vorteil, dass sie jetzt nur noch zu gewinnen brauchen, während alles andere schon komplett in Scherben liegt.
Ein Systemkrieg zwischen zwei real existierenden historischen Entitäten ist etwas ganz anderes, als zwei Ideen gegeneinander auszutesten. Historische Fragen sind historisch, programmatische sind programmatisch.
Wo sollte politische Agitation heute ansetzen?
Jetzt können sich noch ein paar Leute an die Bonbons aus den Tagen der Systemkonfrontation erinnern: die Schaufenster des Westens, das Sozialsystem. Das soll nicht mehr praktikabel sein. Man soll sich das nicht mehr leisten können. Einige verstehen das einfach nicht. Obwohl auf Vollgas gebrüllt wird, damit sie es verstehen. Solange sie es nicht tun, sind sie schlauer als die, die es ihnen erklären wollen. Wenn sie verstanden haben, haben wir Byzanz. Gläubige Menschen.
Dauernd