Die Einmischer. Thomas Wagner
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Kein System präsentiert sich als völlig verrückter Vampir. Jedes stellt seine Vorteile heraus. Der autoritärste Herrscher sagt: Ich beschütze euch vor einem X, vor der Kälte, dem Hungertod oder den bösen anderen, die hinter den sieben Bergen die Zähne fletschen. Nur weil ich so ein Hund bin, haben die Feinde uns noch nicht angegriffen.
Das System, in dem wir leben, behauptet von sich, pluralistisch zu sein. Es beim Wort zu nehmen ist meiner Erfahrung nach oft der einzige Weg. Ähnlich wie bei der Religionskritik, die im Mittelalter zunächst von Leuten kommt, die den religiösen Kram ernst nehmen und Textkritik machen. Sehr verkürzt ausgedrückt, ist Erasmus von Rotterdam schon der halbe Luther, Luther schon eine Art Diderot und so weiter. Insofern haben Sie recht, wenn Sie nach der Lücke im System fragen. Bei Shakespeare gibt es den Hofnarren. Der klingelt, wenn er vorbeikommt. Dafür darf er die Wahrheit sagen. Ich bin dafür, das etwas ernster zu nehmen. Sie reden sich ein, dass dieser Pluralismus existiert. Also habe ich im Moment nicht das Problem, dass ich nichts sagen darf.
Anders wäre es, wenn sich gesellschaftlich etwas bewegen würde. Gäbe es eine Sowjetunion, hätte ich die Hälfte der Sachen, die ich in der FAZ geschrieben habe, niemals schreiben dürfen. Ich darf das, weil es keine gesellschaftliche Kraft gibt, der ich damit den Rücken stärke. Die denken: Der macht sich komische Gedanken, aber befürchten nicht, dass sie einen von denen, die da unten krakeelen und mit Steinen schmeißen, bei sich im vierten Stock haben. Der liebe Frank Schirrmacher sagt über Peter Hacks Sachen wie: fabelhafter Dichter, aber halt verrückt.
Wenn du nun mit der Schelle auf dem Kopf zum Produzieren von Ideen abkommandiert wirst, kannst du immerhin ausprobieren, ob du auch richtige Ideen produzieren kannst. Das sind nur Ideen. Auf dieses »nur« lege ich großen Wert. Sie müssen immer noch zünden. Jemand muss es tatsächlich machen.
Wenn Sie also fragen, wo ich die Chancen für eine Kritik sehe, in diesem System praktisch zu werden, antworte ich dialektisch, zweifaltig: a) nirgends, weil das System so aufgebaut ist, dass es sich nicht absichtlich selber abschafft, und b) überall.
Nirgends heißt, niemand wird sagen: Hier, bitte schön, ist die Planstelle für den Umsturz. Von hier aus kannst du uns vernichten. Auf der anderen Seite gibt es viele Gelegenheiten, etwas Richtiges zu sagen. Zum Beispiel für den braven Gewerkschaftsfunktionär, der dafür da ist, die Sozialpartnerschaft aufrechtzuerhalten, und es in einer günstigen Situation einfach mal nicht macht. Unter Umständen erfordert es mehr Mut, in einer Talkshow eine sogenannte dumme Frage zu stellen, als ein 800 Seiten langes marxistisches Buch zu schreiben. Wenn man zum richtigen Zeitpunkt einen Hartmut Mehdorn oder wen auch immer fragt, ganz ernsthaft: An diesem Ostblock war die ganze Überwacherei doch so schlimm – wie ist das denn jetzt bei euch? Da verliert jemand seinen Job, weil er zwei Euro Flaschenpfand unterschlagen hat, und das findet ihr heraus, weil das System so lückenlos ist, dass ihr noch diese zwei Euro findet – warum habt ihr uns immer erzählt, dass die Überwachung in der DDR so schlimm war?
Wenn man mit so einer Frage reingrätschen kann und viele Leute erreicht, lohnt sich das. Immer mit dem kompletten Programm im Hinterkopf. Das Powerplay fängt mit dem ersten Doppelfehler des Gegners an. Je mehr Analysen man kennt, je mehr historische Beispiele man weiß, wie sie das und das gekauft und absorbiert haben, desto mehr ist man im Vorteil, wenn die anderen straucheln. Ich sehe die Bruchstellen überall dort, wo Marxisten sitzen.
Den schönsten Selbstmord von links begehen Leute, die sagen: Das sieht marxistisch aus, aber das kann es ja nicht sein, sonst wäre es nicht in der FAZ. Wenn man so weit ist, sollte man aufhören, weil man damit im Grunde die Position vertritt: Wir können nicht gewinnen, wollen nicht gewinnen. Es kann auch keinen Zufall geben, der uns in die Hände spielt, sondern unsere Analyse vom Reich des Bösen, in dem wir leben, ist so vollständig, so detailliert und so richtig, dass wir mit nichts anderem rechnen als damit, lebenslang in den Hintern getreten zu werden. Fakt ist, die Gegner schlafen auch mal.
Wurden Texte von Ihnen in der FAZ nicht gedruckt?
Ein einziger von ungefähr 600 Artikeln ist aus inhaltlichen Gründen nicht erschienen. Das liegt daran, dass diese Zeitung konservativ ist. Das Angenehme an Leuten mit konservativen Hintergründen ist, dass sie sich an Regeln halten, die sie aufgestellt haben – im Unterschied zu Sozialdemokraten und Grünen. Ein Sozialdemokrat stellt Regeln auf, weil sie nützlich sind für die Funktion, die er im Moment hat. Nächste Woche sind sie wieder weg. Die noch schlimmere Variante, die man in den letzten dreißig Jahren kennengelernt hat, ist: ökologisch, basisdemokratisch und gewaltfrei. Diese Kombination kommt an die Regierung und die Deutschen führen den ersten Krieg nach 1945, dann wird Hartz IV eingeführt. Das nennen die sozial. Basisdemokratisch? Ich lach mich tot. Was hatten wir noch? Ökologisch. Na ja, da wird in Dosenpfand investiert.
Der Konservative dagegen ist verbindlich, pünktlich und was es sonst noch alles für einen Scheiß gibt. Der hat diese komischen Regeln, und wenn du ihn dabei erwischst, dass er sie bricht, gibt es einen Skandal. Die Kirche kriegt Skandale für Dinge, über die eine SPD nur lachen würde. Wenn man nachweisen könnte, dass der SPD-Vorsitzende säuft, hurt und überhaupt keine Prinzipien hat, würde es heißen: Ja, aber er ist charismatisch, und die Leute verbinden den Aufbruch mit ihm. Ein Papst kann sich so etwas nicht erlauben.
Die von der FAZ sagen: Wir sind kosmopolitisch und liberal – man kann hier eigentlich alles schreiben, vorausgesetzt, man erfüllt die und die Standards. Fakt ist: Viele linke Autoren, mit denen ich zu tun hatte, erfüllen diese Standards nicht. Sie müssen unter Existenzbedingungen vor sich hin krebsen, in denen man bestimmte Professionalitäten nicht entwickeln kann. Wann denn? Wie denn?
Als ich zur FAZ kam, war es von Vorteil, dass ich einigermaßen manisch bin. Also, wenn es hieß: Bis 15 Uhr müssen die und die Formalitäten erledigt sein, waren sie es. Ich kann schnell sein und gründlich im Sinne von relativ fehlerfrei. Solche formalen Requirements kann ich ganz gut erfüllen.
Ihre Texte sind in den Jahren bei der FAZ verständlicher geworden, die Sätze kürzer, die Argumente klarer.
In formalen Geschichten verbirgt sich auch inhaltliche Zensur. Wenn gesagt wird: Schreibe klar, kann das heißen: Äußere keinen neuen Gedanken. Klar ist immer, was alle schon kennen. Die Herausforderung ist dann: Wie klar kann ich den neuen Gedanken machen?
Es gibt den klassischen Vorwurf, dass die Linken unverständlich sind. Das kommt aus der Natur ihrer Position. Was sich total verständlich sagen lässt, ist: Alles in Ordnung, weitergehen, es gibt nichts zu sehen. Aber es klingt kompliziert, wenn man sagen muss: Das Vokabular ist noch nicht entwickelt, aber hier … – Kritisiere mal ein System mit der Sprache, die dieses System erfunden hat! Eine andere ist nicht da. Du wirst komisch klingen, stammeln und das Bedürfnis haben, durchs Zitieren akademischer Autoritäten überzukompensieren. Linke Sprache hat diese Laster, weil sie nach etwas tastet, das kein gebrüllter Befehl ist.
So ist das zumindest bei mir. Ich möchte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, für Dinge zu agitieren, die ich von meiner Herkunft her selbstverständlich finde. Ständig nur: Kommunismus viel gutt mit zwei t – davon würde ich gaga werden.
Sie haben in der Öffentlichkeit sehr an Bedeutung gewonnen. Bei der FAZ waren Sie noch ein Geheimtipp aus der Subkultur. Heute gelten Sie als engagierter Intellektueller, dessen Stimme Gewicht hat. Wie reflektieren Sie diese Rolle?
Diese Planstelle hat sich sehr verändert. Das schmutzige kleine Geheimnis aller kritischen Intellektuellen, die ich aus den Achtzigern kenne, ist: Sie machten alle möglichen Unterschriftenlisten, waren aber auf jeden Fall gegen den Ostblock. Dieses Kontingent von nachdenklichen Menschen war damals wichtig. Sie mussten irgendwie links sein, also das Gute im Menschen wollen, etwas gegen Franz Josef Strauß und bestimmte Unternehmer sagen, aber auf jeden Fall nicht