Die Einmischer. Thomas Wagner
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Man muss die Leute daran erinnern: Was habt ihr alles nicht, und was steht dem im Weg, dass ihr es bekommt? Dann muss man Namen nennen; muss sagen, wer die Leute sind, die öffentliches Eigentum verscherbeln; wer die Leute sind, die es kaufen, und was das für Folgen hat.
Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, der sagt: Ich bin digitale Bohème, ich bin frei – das wäre ja mal so ein ganz zäher Widerstand gegen diesen langweiligen Sozialismus. Dann würde ich sagen: Was machst du, wenn du krank bist? Er würde erwidern: Dann bin ich ja selber schuld. Dem würde ich entgegnen: Das glaube ich nicht, weil … und ihm davon erzählen, wann man die Idee der Krankenkasse hatte. Ich würde ihm erklären: Deine Freiheit, von der du glaubst, sie sei neu und kommt vom Laptop, die gab es immer. Früher hieß das halt Tagelöhner.
Es wird soundso viele geben, die das nicht überzeugt. Das sind mit ziemlicher Sicherheit diejenigen, deren Auftragslage gerade noch ganz okay ist. Aber es kann nicht die Auftragslage aller okay sein. Die alte Massenloyalität gegenüber dem Kapitalismus kommt doch von dem Gedanken: Wenn ich mich mit dem System hier nicht anlege, bin ich immer noch gut dabei. Der Übermut derer, die sich für die Gewinner halten, hat dazu geführt, dass dieses Argument ein bisschen schlechter sticht als vor zwanzig, dreißig Jahren.
Seitdem ist die Ausdifferenzierung oder Atomisierung der Gesellschaft weit vorangeschritten.
Ich sehe als Fluchtpunkt auch so eine Mittelaltersituation: Jeder feudal abhängige Bauer ist unzufrieden, aber daraus folgt halt nichts. Ich merke, dass ich wie ein Optimist klinge, wenn ich sage: Man muss, man sollte und ich finde, dass man … Aber die Alternative ist zu sagen: Das hat eh keinen Wert. Darüber lohnt es sich nicht zu reden. Dann haben wir ein Interview, das einen Satz lang ist.
Die Wahrscheinlichkeit der Revolution ist nicht sehr hoch, aber wenn sie klappt, ist alles gut oder jedenfalls interessant. Ich tue also so, als wären die Dinge sehr viel besser, als sie sind, weil es nichts Blöderes gibt, als hinterher festzustellen: Es sah viel besser aus, ist jetzt aber verschenkt. Ungerechtfertigter Pessimismus führt zu echter Reue. Da geht es einem wie vielleicht ein paar Überlebenden aus der KPdSU im Jahr 1994.
Ich finde, das wichtigste Argument für eine Systemänderung ist das bestehende System selbst. Im Grunde gibt es immer zwei Fragen: Ist es schlecht und ist etwas anderes überhaupt vorstellbar? Wenn sich das mit Ja beantworten lässt, ist der Rest kein Fahrplan, sondern ein Prozess. Dann fangen wir heute an, und alles andere wird sich im Verlauf des Kampfes herausstellen.
Ein schönes Beispiel ist diese Existenzgeldgeschichte. Es wird eine Debatte ausgelöst und dann geben sich die Leute zu erkennen, die so dermaßen dagegen sind, dass du dich irgendwann fragst: Wieso eigentlich? Der Kampf, der von jeder neuen Forderung ausgelöst wird, ist wichtig. Dabei lernen die Leute etwas. Das politisiert Menschen.
Wenn du mit Leuten etwas zusammen machen willst, zum Beispiel eine Zeitschrift, gibt es selbstverständlich immer gleich 500 Argumente, warum es schiefgehen kann. Jeder Weg ist eine potenzielle Sackgasse. Die Leute machen es trotzdem ständig wieder. Erstens, weil sie es wollen und sagen: Wir werfen die Flinte nicht ins Korn, wenn wir auf Widerstände stoßen. Zweitens, weil sie es optimieren, während sie daran arbeiten. Im Arbeitsprozess stellt sich sehr schnell heraus, was geht und was nicht. Dann fragt man: Wenn es so nicht geht, wie geht es anders?
Dieselbe Sorte Argumente, die heute gegen die Realisierbarkeit des Sozialismus vorgetragen wird, ist vor Jahrhunderten gegen die Behauptung vorgebracht worden, dass so etwas wie der Kapitalismus je klappen könnte. Die klügsten reaktionären Zeitgenossen der Französischen Revolution begründen dir absolut stringent, warum das Leben ohne Adel nicht klappen kann.
Der wichtigste Unterschied zwischen Marx und Hegel ist der, dass Hegel sagt: Wenn wir uns lange genug anschauen, was wir wissen, werden wir wissen, wie es weitergehen wird. Marx bringt da den sogenannten subjektiven Faktor rein. Das heißt, für diesen Prozess spielt es eine Rolle, was die Leute wollen, was sie tun und was sie, während sie es tun, lernen.
Sie gelten als glühender Anhänger Lenins. Warum schreiben Sie kein Buch über Lenin, sondern ein Suhrkamp-Taschenbuch über seine Kritikerin Rosa Luxemburg?
Ich halte von niemandem so viel für richtig wie von Lenin. Von dem, was sich, bereinigt um historische Spezifika, in Thesenform bringen und heute verwenden lässt, sind das so 65 Prozent. Wenn man sagen würde: Lenin hat zehn Gebote hinterlassen, würde ich sagen: Davon sind sechseinhalb richtig. Sachen wie: Nehmt euch vor den Gewerkschaften in Acht, weil … Oder: Ein bisschen Zentralismus hat noch keinem geschadet.
An Rosa Luxemburg beeindruckt mich, wie sie Lenin mal ein bisschen von rechts und mal ein bisschen von links angreift. Sie synthetisiert aus dem Engels- oder Plechanow-Marxismus, dem Volkstümlertum ihres Geliebten und politischen Erziehers Leo Jogiches und aus der konkreten Situation mit ihrer unglaublichen Flexibilität eine eigene Position. Die ist dann anders als die von Lenin.
Am Ende der deutschen Revolution, in der konkreten Situation, zeigt Luxemburg zwei Dinge auf: a) Lenin ist in den Grundsätzen der Organisation bestätigt. Und b) Nichts ist so gefährlich wie eine intelligente SPD-Leitung als Instrument der Konterrevolution innerhalb der Linken. Das haben die frühen deutschen Leninisten damals unterschätzt.
Wann ist das Buch fertig?
Seit Februar rechnen wir mit dem Erscheinen im übernächsten Monat. Ich habe für kein Buch bei Suhrkamp so lange gebraucht wie für diese 120 Seiten. Leben- und Werkteil sind fertig. Bis auf die Zitatkästen. Die banal serviceorientierte Reihe BasisBiographien hat dieses Erfordernis. Und leider sind die Sätze von Frau Luxemburg immer dann sehr lang, wenn sie richtig gut wird. In dem Buch Akkumulation des Kapitals oder in der Junius-Broschüre ist die gesamte Dialektik in einem Absatz enthalten, und dieser Absatz ist ein Satz. Das ist die Gesamtdarstellung der Position. Mir fällt es schwer zu entscheiden, was da verzichtbar ist.
Das zweite Problem ist der Wirkungsteil. Seit er fertig ist, erscheint jeden Monat ein neues Buch oder ein Text in Zeitschriften wie International Socialism, Historical Materialism, Argument oder auf irgendeiner Website, und ich denke: Ah, alles noch mal anders. Im Wirkungsteil sage ich, was wir von Rosa Luxemburg jetzt brauchen. Das ändert sich jeden verdammten Monat. Das heißt: Jemand muss uns stoppen, sonst erscheint das Buch einen Monat nach der Revolution, weil man erst dann weiß, was man von Rosa Luxemburg wirklich gebraucht hat.
Für eine ernsthafte Diskussion des Gesellschaftssystems ist in den großen Medien wenig Platz. Unbeirrt nutzen Sie jede Gelegenheit, diese Diskussion dort anzustoßen. Ist dabei nicht die Rolle eines Exoten für Sie vorgesehen, der alles sagen darf, weil man ihn im Grunde nicht ernst nehmen muss?
Es gibt dieses Kasperl- oder Lendenschurz-Problem, Sie sagen Exot. Dazu fällt mir Ulrike Meinhof ein. In ihren letzten Kolumnen schreibt sie mit großer Unzufriedenheit über sich als Figur, die das System, das sie zum Einsturz bringen will, auspolstert oder abfedert. Man lässt sie schreiben, und die Repräsentanten des Systems können sich zugute halten, wie liberal es doch sei. Die Meinhof hat dann den Schritt in die Jugendarbeit gemacht, um wenigstens ein paar Jugendlichen zu helfen, die in Heimen schikaniert wurden. Sie hat sie dazu gebracht, ein bisschen Rabatz zu machen, und gab ihnen den Schutz, den sie ihnen als Medienfigur geben konnte. Ich nenne das den Franz-von-Assisi-Weg. Die Meinhof hat das offenbar auch nicht zufriedengestellt. Sie ist in den Untergrund gegangen. Und eine exotische Randerscheinung geblieben, die sich dafür aufopfert, dass letztlich alles so bleibt, wie es ist. Dass sie stellvertretend verbrannt wurde, hat die Situation vielleicht sogar verschlimmert.