Bella und Paul. Uwe Kirst
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Wie es heute wohl hier aussehen wird? In den vergangenen Jahren gerieten ihm verinnerlichte Bilder zu Synonymen für Großbritannien. Gefühle, Formen, Farben hatten sich mit diesen Tagen in Yorkshire verwoben und dazu beigetragen, dass sein Interesse an diesem Land wachblieb, obwohl es nichts gab, das ihn beruflich damit verband. Die lukrative Vortragsreise durch Nordengland und Schottland würde das ändern – seine Agentur in Berlin hatte ihm den Kontakt vermittelt.
Warum es Middlethorpe Hall war, das zum Treffpunkt für den Erstkontakt wurde, konnte er nur vermuten. Offenbar war es nach wie vor ein bestens geeigneter Ort, um vom Glanz des britischen Empire zu künden, nachdem in der Gegenwart eher kleingeistige Strömungen von wenig staatsmännischer oder gar weltpolitischer Kompetenz kündeten.
Er hatte ernsthaft erwogen, diese Reise zu nutzen, um gegebenenfalls ein Refugium zu finden; hier, im Harry-Potter-Land. Zum Abschalten, Nachdenken, Ideenentwickeln – gepfiffen auf den Brexit. Er war allein, voller Sehnen nach Heimatlichkeit, die in Deutschland Gemütlichkeit hieß und wie Staub und Lavendelsäckchen roch.
Das erwartete Gespräch lockte ihn, denn der hiesige Partner hatte Letitia Brown angekündigt. Sie war Leiterin einer PR-Agentur mit einem speziellen Bildungsauftrag zur Förderung des europäischen Gedankens im Vereinigten Königreich. Das klang zwar fast anachronistisch in dieser Zeit, aber er trug gern dazu bei, die Vorzüge eines innovativen Europas zu erläutern, wo immer man ihm zuhörte. Er liebte es, wenn ihm Menschen aufmerksam lauschten. Sie hatte oft in Deutschland gearbeitet, er hoffte auf anregende Gedanken und den Geist einer Britin.
Nachdem die Straße durch eine moorige Fläche geführt hatte, in der versprengte Schafe mit roten Markierungen weideten, wuchs immer mehr Bebauung aus dem Horizont: Die Stadt York rückte näher. Sein Hotel zu finden, würde kein Problem sein, denn das Navigationsgerät kannte sich aus. Indes sprach es deutsch. Quelle größter Heiterkeit, wenn es zum Beispiel aus Cambridge »Kammbriddge« generierte.
Er sah die Gärten, die vielen Mäuerchen und erinnerte sich an John Forbes. Schade, dass er tot war; er hätte jetzt gern seine Meinung gehört zur Lage im Land. Er hatte immer gelassen reflektiert und pointiert geurteilt. Zu Gast in dessen Haus fiel ihm eines Morgens auf, dass tiefe Parallelspuren das um ein Haar perfekte englische Grün durchpflügt hatten.
»Was haben Sie über Nacht mit Ihrem Rasen gemacht?« fragte er seinen Gastgeber.
»Oh«, entgegnete Forbes. »Das war nicht ich, das waren die Diebe, die den Rasentraktor gestohlen haben.« Und ungerührt griff er zum gebutterten Toast, während er die Baked Beans seines Englisch Breakfast löffelte.
Sie war vorbei, diese Zeit. Sein unbewusstes Lächeln trug für einen Beobachter einen wehmütigen Zug. Wir erleben Menschen und merken nicht, dass wir sie im Grunde lieben, dass sie ihren Platz in unserem Alltag wie selbstverständlich besetzen, sich passend einrichten und Teil dieses Lebens bleiben. Immer verdeckt von akutem Handeln, aber stets präsent, glockenklar auftauchend, sobald unser Unterbewusstes die Gelegenheit bekommt, etwas ›nach oben‹ zu schicken, ins geistige Licht. Belangloses, so urteilen wir oft, doch nichts ist ohne Sinn, was uns das Innerste liefert. Passgenau, aber häufig unverständlich, da Verstehen an Einsicht geknüpft ist, die meist erst später kommt. Es heißt, dass wir sie ›gewinnen‹. Das stimmt, denn ständig tobt der Wettkampf mit unserer eigenen Dummheit.
Er erreichte sein Hotel, das, wie erwartet, kein Kasten war aus Glas und Beton, sondern viktorianische Architektur verkörperte. Trotz aller Renovierungsorgien nach wie vor harmonisch, aber mit den Hühnerstiegen, die hier Treppe genannt werden.
Sein Zimmer hatte eine freistehende Badewanne. Geeignet, einer nackten Schönheit im Bade zuzusehen, während man, den alten Sherry im Glas, darauf wartete, bis sie trocken genug war, um ihr beim Schließen der Verschlüsse zu assistieren. Das Badezimmer war kein enges Kabinett, sondern voller Licht und Raum, die Toilette wiederum ungeeignet für korpulente Gäste.
Die altertümliche Schließtechnik der Fenster war respektvoll erhalten worden und nach ihrer Überwindung konnte sein Blick die Stadt erfassen.
Die Kathedrale mit ihrer kantigen Silhouette, die tausend Schornsteine auf Pultdächern, das schwindende Licht, das rötliche Reflexe auf ungezählte Glasscheibchen zauberte.
Er räumte seine wenigen Utensilien in Bad und Schränke, zog die Reisekleidung aus und wählte eine Krawatte zum Hemd, die ihm gefiel. Er war es Middlethorpe Hall schuldig, selbst wenn alle Welt in Jeanslumpen und Fünf-Euro-T-Shirts sogar in Opernpremieren latschte. Er hatte keinen Einblick, wie Letitia, er nannte sie in Gedanken schon bei ihrem Vornamen, gekleidet sein würde. Ein Jeansberuf in einem Cut-away-Land? Was trugen Geschäftsfrauen heute zum Dinner in historischen Mauern?
Seine Gastgeber hatten ein Taxi geschickt; nicht ein solches, wie es für London typisch war, sondern eine moderne Marke südostasiatischer Herkunft und die recht kurze Fahrt endete, wie erwartet, vor dem Eingang, den er kannte. Nach dem Aussteigen hatte er, genau wie vor vielen Jahren, das Gefühl, klein zu sein vor diesem imposanten Haus und zugleich erhobenen Hauptes durch das verzierte Tor gehen zu dürfen, dazuzugehören, ein erwarteter Gast zu sein.
Die Lobby wirkte noch immer wie eine Szene aus Downton Abbey, nur, dass Flachbildschirme auf altem Holz mit den korrekten Sakkos der Angestellten und deren beflissenem Blick konkurrierten.
Leticia Brown stand am Tresen des Portiers und er war froh, dass er nicht die Casual-Variante gewählt hatte, da neben ihr zwei jüngere Männer mit Fliege posierten. Sie war es sicher, denn sobald sich die Tür hinter ihm schloss, kam sie auf ihn zu, mit fragendem Blick, der schnell strahlend wurde, da sie ihn ebenfalls erkannt hatte. Niemand trifft heutzutage irgendwen, den er nicht vorher googelt.
Es wurde ein Dinner, wie er es liebte, mit besten Weinen, wie es heute in England erwartet werden konnte. Er aß mit Appetit und Interesse, denn die englischen Speisen waren besser als ihr Leumund, vor allem, weil ausgesuchte Rohstoffe hier Standard waren und niemand auf die Idee kam, dass ein Stück bestes Fleisch billig zu haben sein müsse.
Seine Gastgeberin kannte sich aus und die Inhalte seiner Vorträge waren bald umrissen. Witzig war sie, vor allem, wenn sich ihre Mitarbeiter, das waren die beiden Herren in ihrer Begleitung, im Gespräch zu weit vorwagten. Er genoss das Geplänkel, denn er war geübt in der behutsamen Hartnäckigkeit, mit der Briten ihren Faden verfolgten, obwohl eine lockere Floskel die andere abzulösen scheint. Das Dessert, ein Crumble, wie es fast nur in England zu bekommen war, bot Gelegenheit, einen schweren Portwein zu kosten.
Dann war alles besprochen und vereinbart und es kam das, was er im Stillen gehofft hatte: Mrs Brown schickte ihre Begleiter nach Hause und lud ihn zu einem Whisky an den Kamin ein.
»Es interessiert mich doch sehr«, lächelte sie, »was Sie damals bei ihrem ersten Besuch in Yorkshire so erlebt haben.«
Das wunderte ihn zwar, aber welche Überschrift diesen Teil des Abends zieren würde, war im egal. Die Hauptsache, er hatte Gelegenheit, ihr weiter einige Zeit zuzuhören und sie zu betrachten, denn er nahm ihre Anziehungskraft wahr, die vom recht vertrauten Grundton herrührte, den sie ihm gegenüber von Anbeginn angeschlagen hatte.
»Aber sehr gern!« Er erhob sich ebenfalls. »Dann sehe ich gleich, ob der Kamin noch derselbe ist, an dem ich damals saß.«
Es waren zwei Sessel reserviert und bald saßen sie einander halb gegenüber, den Blick auf das Feuer gerichtet, das in dem Kamin, der in der Tat derselbe war,