Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung. Christiane Kliemannel

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Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung - Christiane Kliemannel

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alten Werte verstanden und Jugend damit selbst konstruiert (vgl. Andresen, 2003, S. 70). Es ist zu erwarten, daß in den Untersuchungen aus dem Bereich der Geschlechterforschung, die sich mit Geschlechterkonstruktionen beschäftigt, vor allem die hier erwähnten Gedanken bzw. Selbst- und Fremdthematisierungen – die Jugend als Träger eines anderen Lebens und Bewahrer der alten Werte – genauer erörtert und eher kritisch in die Analyse zur Konstruktion weiblicher Jugend in der deutschen Jugendbewegung einbezogen werden.

      Dessen ungeachtet wurde insbesondere in den damaligen Schulen, geprägt von der wilhelminischen Ära16, die Eigenart der Jugend und deren Potential der Lebensform bzw. den Vorstellungen der Eltern untergeordnet (vgl. Frobenius, 1927, S. 31). Dazu gehörte auch die strenge Sexualmoral mit der Forderung nach weitestgehender sexueller Abstinenz bis zur Ehe (vgl. u. a. Linse, 1987, S. 248 ff) – Keuschheitsgebot –, wobei darin, wie im folgenden Kapitel deutlich wird, enorme Geschlechterdifferenz17 bestand. Daneben standen die Jugendlichen unter der „Fuchtel“ ihrer Eltern und der Schule und hatten diesen Gehorsam, Unterordnung und Leistung entgegenzubringen und zu zeigen (vgl. Malzacher/​Daenschel, 1993, S. 11). Jugend war damit nicht mehr, als ein verlängerter Status der Abhängigkeit (vgl. Andresen, 2003, S. 71), vor allem von der „autoritär-patriarchalischen Vaterfigur“ (Klönne, 2000, S. 48).

      Vor diesem Hintergrund entstand die deutsche Jugendbewegung. Besonders im ersten Grundlagenwerk zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung von Hans Blüher18 wird sie vorrangig als ein „Kampf der Jugend gegen die Alten“ (1922a, S. 65) betrachtet. „Die Väter wollen die Söhne zu dem machen, was sie sich in den Kopf gesetzt haben, oder wie sie selber sind, aber die Jugend will nur allzu deutlich werden, was sie will“ (ebd.).

      Diese These der jugendlichen Rebellion gegen die Eltern (Väter) sei nach Meinung von Andresen und Klönne stark zu relativieren bzw. modifiziert und widerlegt (vgl. Klönne, 2000, S. 47, vgl. Andresen, 2003, S. 118). Denn, wie oben schon ausgeführt wurde, die Jugendlichen bzw. jungen Männer übernahmen die elterlichen Wertehaltungen und deren Kritik an der Zivilisation (Industrialisierung und Verstädterung), was sich praktisch in ihrem zeitweiligen Auszug aus den Zentren des gesellschaftlichen Lebens (Städten) äußerte – dem gemeinsamen Wandern der zunächst männlichen Jugendlichen ohne Aufsicht von Schule bzw. Eltern (vgl. Klönne, 2000, S. 47). Durch die Identifizierung mit den dabei erfahrenen Werten eines einfachen und natürlichen Lebens in der „freien Natur“, so Klönne, glaubten die Wandervögel und nach ihnen alle anderen Gruppen der Jugendbewegung, einen alternativen Entwurf oder ein Gegengewicht zur bestehenden (sozialen) Ordnung entdeckt zu haben (vgl. 1996, S. 249 f). Dies spiegelt sich auch in den folgenden Worten Frobenius’ zum Phänomen „Wandervogel“ wider:

      Der Wandervogel ist ein Zeitphänomen. Denn er entsteht in der Zeit einer überreifen Kultur aus der Auflehnung gegen die Mechanisierungen des Lebens. Er ist der Vorbote großer Umwälzungen. (…) Der Wandervogel ist gleichzeitig ein Menschheitsphänomen. Denn er bringt das uralte Recht der Jugend auf Gemeinschaftsbildung, auf ein Eigenleben wieder zur Geltung (…) (und bildet ein, C.K.) Gegengewicht gegen die allgemeine Mechanei. (…) (Der Wandervogel ist) ein urdeutsches Phänomen. (…) (Denn er, C.K.) beruht auf dem urdeutschen Wandertriebe, der seit Jahrhunderten im Volke lebendig ist. (1927, S. 45)

      Stattdessen wird die Jugendbewegung in der modernen Forschungsliteratur u. a. von Klönne nicht nur als soziale, sondern auch als eine Fluchtbewegung gedeutet, nämlich vor der angstverursachenden Moderne in die Arme einer „pädagogischen Provinz“ (vgl. 2000, S. 48) bzw. pädagogischen Schonraum für die Jugend (vgl. Dudek, 1991, S. 64).

      Als erster offizieller Ansatz für den Auszug aus den Zentren des gesellschaftlichen Lebens und damit als Geburtsstunde der Jugendbewegung gilt der „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten(AfS), begründet am 4. November 1901 von jüngeren und älteren Mitbewohnern, u. a. von dem Studenten Karl Fischer in Steglitz bei Berlin (vgl. Giesecke, 1981, S. 18). Das Ziel dieser außerschulischen Organisation für Schüler beschreibt ein Lehrer am Steglitzer Gymnasium und späterer Wandervogel Prof. Dr. Ludwig Gurlitt20 wie folgt:

      In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind: Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefahren des Alkohols und des Nikotins – um von Schlimmerem ganz zu schweigen. (ebd., S. 18)

      Die ersten Wandergruppen des AfS, die in abenteuerlicher Aufmachung mit „Schlapphut, Rucksack und Gitarre“ (Frobenius, 1927, S. 20) im Morgengrauen oder am frühen Abend aus den Städten hinauswanderten, waren reine Jungengruppen, bestehend aus Gymnasiasten, die der Bürgerschicht entstammten (vgl. Aufmuth, 1979, S. 236, 242 ff), woraus sich auch der Name der bürgerlichen Jugendbewegung ableiten läßt. Jene Gruppen wurden von nur unwesentlich älteren Schülern, Studenten oder Lehrern geführt. Man bezeichnete diese als Führer, (Bacchant), da sie in jenen Gruppen immer eine zentrale Rolle spielten und es von ihren Fähigkeiten abhing, was in den Gruppen lief. Damit war ihre Funktion nicht ausschließlich auf organisatorische Aufgaben beschränkt (vgl. Andresen, 2003, S. 81). In Anlehnung an das Konzept der mittelalterlichen Scholaren (fahrenden Schüler) erschloß sich den Jugendlichen auf ihren Fahrten in Wäldern und Wiesen nahe der großen Städte ein Leben voller Abenteuer. Hier entwickelte sich jener Lebensstil, der für den Wandervogel und ebenso für die Gruppen der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik eigentümlich bleiben sollte: Gemeinsames Wandern und Singen, Übernachten unter freiem Himmel, Kochen am offenem Feuer. Eingebunden in neue Naturerlebnisse, war das bestimmende Moment des hier gefundenen Lebensgefühls das Erlebnis der Gemeinschaft, der „Verschworenheit“ der Gruppe oder des Bundes21 (vgl. Klönne, 1996, S. 250 f). Damit wurde ein Leitmotiv jugendbewegter Kultur vorgegeben. Die Gestimmtheit des Gefühls oder, wie es Frobenius nennt, „Gemütstiefe“ (1927, S. 23), reichte über unterschiedliche Anschauungen hinweg und vermittelte den Zusammenhalt von Bund und Gruppe, das „Gemeinschaftserlebnis“ (vgl. Schröder, 1996, S. 8, 59 ff).

      Bevor jedoch die ersten Mädchen aktiv an den Fahrten (1905) des sich weiter ausbreitenden Wandervogels der Jungen und Männer beteiligen konnten, genossen diese ein paar Jahre ihres wildromantischen „Scholarenleben“ unter sich. Schon kurze Zeit nach der Begründung des AfS begann dessen verhältnismäßig schnelle Ausbreitung. Im Zeitraum von 1901 - 1905 bildeten sich im AfS sechs weitere Ortsgruppen (vgl. Köhler, 1987c, S. 134). Waren an den ersten Wanderungen 1901 ca. 30 Teilnehmer unter Führung Fischers unterwegs, wurden 1903 bereits Fahrten mit 250 Teilnehmern unternommen (vgl. Köhler, 1987a, S. 73).

      Über den Stil des Wanderns kam es in diesem Zeitraum zu ersten Spannungen zwischen diversen Führern der Scholaren im ersten Wandervogel. Weitere Auseinandersetzungen folgten, woraufhin am 29. 06. 1904 der AfS aufgelöst und der „Altwandervogel(AWV) von Karl Fischer begründet wurde (vgl. Malzacher/​Daenschel, 1993, S. 19). Im gleichen Atemzug entstand der Steglitzer Wandervogel e. V. (1904), in dem die Kontrahenten Fischers den AfS nach ihren Vorstellungen in Steglitz fortführten. Trotz dieser Spannungen gewann der Wandervogel, sprich die deutsche Jugendbewegung, immer mehr Fürsprecher und Anhänger22, auch in einem Teil der Gymnasiallehrerschaft (vgl. Frobenius, 1927, S. 60).

      Im Gegensatz zur männlichen Jugendbewegung, die im Laufe ihrer Entwicklung immer

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