Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung. Christiane Kliemannel

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Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung - Christiane Kliemannel

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Aufsätze und Aufrufe zum Mädchenwandern ließen sich nach Ausführungen der jugendbewegten Chronistin Else Frobenius schon im Urwandervogel, d. h. AfS finden (vgl. 1927, S. 66 f). Mehrheitlich wird jedoch auch in den aktuelleren Studien (vgl. u. a. Andresen, 2003, S. 119, Schade, 1996, S. 36) bestätigt, daß das Mädchenwandern bzw. die weibliche Jugendbewegung mit der Begründung des „Bund der Wanderschwestern“27 1905 durch Marie Luise Becker begann – der Frau von Wolfgang Kirchbach, einem Gründungsmitglied der Wandervogelbewegung. Becker äußerte sich zu diesem Ereignis in einer Wandervogelzeitschrift wie folgt (Becker in Köhler, 1987d, S. 268):

      Er (Bund der Wanderschwestern, C.K.) hat sich also (…) nun am 14. Juni d. J. gegründet und hofft, daß viele der Schwestern unserer Wandervögel daran teilnehmen und ebenso wie die Gymnasiasten auf frohen Wanderfahrten ihr Heimatland kennenlernen.

      Deutlich wird an dieser Ausführung, daß es zunächst in erster Linie die Schwestern der Jungen im Wandervogel waren, die sich jener Bewegung anschlossen und im Laufe der Zeit damit begannen, eigene Wandergruppen zu begründen (vgl. Musial, 1985, S. 16). Ähnlich wie die Jungen stammten die Mädchen mehrheitlich aus dem Bildungsbürgertum, dem oberen Mittelstand (vgl. Andresen, 2003, S. 118), und wurden von ihren Eltern dabei unterstützt, am Wandervogelleben teilzuhaben. Allerdings war der Hintergrund hier der „deutschtümelnde Gesundheitsdiskurs“: „Der Wandervogel will dazu helfen, ein an Körper, Geist und Wille starkes und gesundes deutsches Geschlecht heranzubilden“ (Verband Deutscher Wandervögel, 1914 in Klönne, 2000, S. 150). In diesem Kontext entwickelte sich in der Jugendbewegung dann auch eine Körperkultur (ähnlich wie im Ausland), die sich neben den üblichen Wanderungen in Betätigungen wie Gymnastik, Tanz mit entsprechender Kleidung ausdrückte.28 Weitere Versuche für das Mädchenwandern wurden später in der Ortsgruppe Jena angestrengt. Auf der Bundeshauptversammlung des AWVs stellte sie einen Antrag, mit dem sie für die Ausdehnung des Begriffs „der Jugend auch auf das weibliche Geschlecht“ eintrat sowie für das Volksschulwandern und das Verbot von Alkohol (auf Fahrten) (vgl. Ahrens/​Copalle, 1954, S. 33). Dieser wurde von allen Ortsgruppen des AWVs abgelehnt, weil sie:

      (…) nicht überzeugt (waren, C.K.) von dem gleichen Wert und der gleichen Art der Geschlechter innerhalb des Wandervogels (und um, C.K.) eine ungesunde Entstellung des Wandervogelstils (fürchteten, C.K.), der in erster Linie Selbsthilfe der Jungen (gewesen sei, C.K.). (Frobenius, 1927, S. 67 f)

      Ebendies führte im selben Jahr zur Neugründung des Wandervogel Deutscher Bund (kurz DB) durch Hans Breuer 1907, der auch weibliche Mitglieder aufnahm (vgl. Schade, 1996, S. 38). Mit Hans Breuer begann ein weiterer wichtiger Abschnitt in der Geschichte der weiblichen Jugendbewegung, welcher Meinung auch andere Forscher und Forscherinnen sind (vgl. u. a. Andresen, 2003, S. 121, Frobenius, 1927, S. 66 ff). In seinem richtungsweisenden Artikel von 1911, dem „Teegespräch“, umriß jener, in welcher Weise mit der Frage des Mädchenwanderns umzugehen sei. Die Grundaussagen in seinen dortigen Ausführungen sind, daß auch für die Mädchen das Wandern „nach jeder Richtung hin allgemein förderlich“ ist, nicht aber mit den Jungen gemischt, denn die Gefahren des Zusammenwanderns sind für ihn offensichtlich: Die Mädchen würden dadurch „verbengeln und verwildern“, die „Buben verweichlichen“. Damit stellte sich die Frage des Mädchenwanderns zu dieser Zeit eher als eine Frage des Gemischtwanderns bzw. der Geschlechter. Breuer war es auch, der weitere Ansätze für das Mädchenwandern, d. h. „die rechte Praxis und das rechte Maß für dessen Wert und Art“ (1911 in Ziemer/​Wolf, 1961, S. 232) gab. Eine zentrale Rolle spielte dabei die „Führerfrage“: Mädchengruppen sollten unter männlicher Führung wandern. Von jungen Lehrerinnen, so fürchtete er, würde „ein klösterlich-tantenhafter Beigeschmack in das Wanderleben“ kommen. Die Forderungen Breuers wurden bestimmt von den gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft – zum einen „Verzicht auf Distanzmärsche“, zum anderen Aufenthalte im „Landheim“ (ebd.)29:

      Da lernen sie (die Mädchen, C.K.) ein Haus, ein Heim gemütlich zu machen, seine Mauern mit schöner Harmonie und Lebensfreude zu füllen, sie lernen Häuslichkeit, Verträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und haben auch auf täglichen Streifzügen (…) die Vorteile des Wanderns nach ihrer Art. (ebd., S. 233)

      Um überhaupt in jener Bewegung weiter bestehen zu können, benötigten die Mädchengruppen die Anerkennung der Jungengruppen, was zu Beginn Anpassungen an deren Vorgaben forderte und auch zu Nachahmung des männlichen Verhaltens führte (vgl. Klönne, 2000, S. 248).

      Im Laufe der Zeit bildeten sich immer mehr weibliche Wandergruppen. Die an vielen Orten entstandenen Mädchengruppen waren verschiedenen Wandervogelbünden (Wandervogel Deutscher Bund, 1907, Steglitzer Wandervogel e. V., 1910, AWV 1910) angeschlossen. Von 1911 an suchten die Mädchen Anschluß an den Jung-Wandervogel (eine Abspaltung des AWVs, der keine Erwachsenen bzw. Lehrer als Führer duldete). Bis 1912 bildeten sich in jener Vereinigung allein 12 Mädchengruppen und ein eigener Mädchenbund (vgl. u. a. Klönne, 1996, S. 255).30 Auch im 1912/​13 entstandenen Einigungsbund, dem Wandervogel, Bund für deutsches Jugendwandern e. V., wurden, wie überall, zumeist in den Ortsgruppen eigene Mädchen- und Jungengruppen begründet, was aber nicht die Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit, sprich Gemischtwandern, beinhaltete (vgl. Musial, 1985, S. 19). In jenen Gruppen entwickelten sie einen eigenen Stil (vgl. ebd.), der sich schon etwas von den Jungengruppen unterschied. So zum Beispiel in ihrer äußerlichen Erscheinung bzw. Bekleidung – dazu gehörten u. a. Faltenröcke und Kittelblusen, bis hin zum Inselkleid (vgl. 6.2). Zum einen hob sich diese Kleidung von den konventionellen Kleidervorschriften ab (Verzicht auf Korsettkleid), zum anderen war sie zum Wandern geeignet und hübsch anzusehen (vgl. Behm, 1989, S. 84). Im wesentlichen gestaltete sich die Art des Wanderns ganz anders als die der Jungen, wie der Wandervogel Fritz Klusmann beschreibt:

      Auf Mädchenfahrten geht es anders her. Das weibliche Gemüt ist empfänglicher für ein beschauliches Wandern. Man läuft nicht so weit, aber man wandert mit mehr Tiefe (…). Landschaftliche Stimmungen, Sonnenuntergänge und vieles andere wofür die Buben nicht die Auffassung haben, gestalten das Mädchenwandern so unendlich reich und schön. Dann das Tanzen, die Freude am Vorlesen (…). Stets wird man bemerken, wie die Mädchen, (…), anders wandern und singen. (in Behm, 1989, S. 81)

      Mit dieser persönlichen „Note“ lieferten die Mädchen und Frauen nach Frobenius auch einen „Beitrag“ zum Phänomen der deutschen Jugendbewegung:

      Die Mädels haben wesentlich zur Entwicklung des neuen Lebensstils, von Gesang und Tanz, Wandervogeltracht, Landheim und Stadtnest beigetragen. Durch ihren Eintritt in die Bewegung konnte die Wandervogelkultur sich über das Vagantentum der ersten Jahre zu einer deutschen Kulturerscheinung ausbauen. (1927, S. 74)

      Mit der Zunahme der weiblichen Mitglieder in der deutschen Jugendbewegung – von 500 Wanderschwestern im Jahre 1910 auf 2300 Mitglieder weiblichen Geschlechts Ende 1911 (vgl. Müller, J., 1971, S. 312) – wurde es notwendig, den Umgang der Geschlechter miteinander zu regeln. Dabei griff man auf das bereits in der Einleitung angesprochene Ideal der Kameradschaft zurück, das man aus dem 19. Jh. übernahm und speziell für die Jugendphase zuschnitt: „Kameradschaft als zeitlich begrenztes, auf Jugend bezogenes Konstrukt bei gleichzeitiger Ausklammerung von Sexualität“ (Reese, 1991, S. 9).31 Die besondere Bedeutung jener Kameradschaft, mit dem das Weiblichkeitsbild der Kameradin einherging, war jedoch nicht deren inhaltliche Gestaltung. Diese erfuhr, wie gleich noch deutlich wird, angesichts des Wandels in den Bünden unterschiedliche Interpretationen (vgl. Klönne, 2000, S. 225 ff): Es war „die grundsätzliche Zurechnung der Mädchen zur Jugend“ (Reese, 1991, S. 7), die nach Aussagen von Busse-Wilson für die Mädchen und Frauen in der Jugendbewegung zum ersten Male die Möglichkeit einer wahren „Gleichberechtigung“ (1919, S. 328) bot und für Reese erstmals die Möglichkeit der Individualität für die Mädchen darstellte (vgl. 1991, S. 8). Denn in der Konstruktion von Jugend ging man von einer formalen Gleichheit aller Menschenleben (inkl. der Geschlechter) aus (vgl. ebd.), und die junge Frau oder das Mädchen wurde entgegen der „bürgerlichen Sexualmoral“ nicht mehr

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