Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs
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23. Aufreibende Gegenangriffe bei Witebsk
25. Vom Genesungsurlaub zur Genesungskompanie
26. An der Kriegsschule in Hagenau
29. Die Heimat im totalen Krieg
30. Der Kriegsgefangenschaft erster Teil
31. Die Heimat am Ende des Krieges
32. Juttas Erinnerungen an das Jahr 1946
33. Das Ende meiner amerikanischen Kriegsgefangenschaft
34. Im Konzentrationslager Oranienburg
37. Im Steinkohlenbergbau bei Stalinogorsk
1. Ein neuer Jahrgang und eine neue Hoffnung
Ich kam am 13. August des Jahres 1924 in dem vogtländischen Städtchen Auerbach zur Welt. Sechs Jahre waren seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vergangen. Die Mehrzahl der Menschen in Deutschland schlug sich mehr schlecht als recht durch die bestehenden schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit, die von hohen deutschen Reparationszahlungen an die Siegermächte und den Auswirkungen einer Weltwirtschaftskrise geprägt war. Ein Hoffnungsschimmer auf eine Veränderung ihrer Situation ergab sich im selben Monat als das durch den verlorenen Krieg verarmte Land ein Münzgesetz erhielt, mit dessen Wirksamwerden die Flut an inflationären Geldscheinen verschwinden sollte. Per Gesetzesbeschluss verwandelte man damit jede Billion Reichsmark in jeweils eine Rentenmark. Für mich, den neuen Erdenbürger, blieben einige Tausenderscheine von wertlos gewordenem Papiergeld übrig, um mich später an die denkwürdigen Ereignisse im Monat meines Erscheinens zu erinnern.
Das sichtbare Licht dieser Welt wird mir wohl zunächst aus einer elektrischen Stubenlampe entgegengestrahlt sein. Sie hing über dem großen runden Tisch in der Mitte des Wohnzimmers meiner Großeltern und war, wovon ich mich später überzeugen konnte, mit schönen bunten Perlenschnüren bekränzt. Das Liegen unter ihrem Lichtkegel, aus dem auch die Stimmen der mit mir beschäftigten Menschen zu kommen schienen, dürfte zu den ersten schwach erinnerlichen Wahrnehmungen meines Lebens gehören. Man hat mir später erzählt, ich sei auf diesem Tisch gewindelt worden, wobei gewöhnlich außer meiner Mutter auch ihre beiden Schwestern und meine Großeltern anwesend waren. Mein Vater dürfte damals selten zugegen gewesen sein. Als gelernter Schlosser befand er sich in der Gegend von Leipzig, um an einer weiterführenden Berufsausbildung für Lokomotivpersonal teilzunehmen. Meine Mutter arbeitete als Weißnäherin in einer der zahlreichen Auerbacher Textilfabriken. Meine Eltern waren also im Begriffe, für sich und für mich an einer hoffnungsvolleren Zukunft zu arbeiten.
Da meine Mutter mit mir noch bei ihren Eltern wohnte, wurde ich während ihrer Abwesenheit von den beiden Tanten und der Großmutter betreut. An Fürsorge und lieben Menschen hat es mir damit von Anfang an nicht gefehlt. Besonders fühlte ich mich zu meiner Tante Marie hingezogen. Sie hatte im ersten Weltkrieg den Verlobten verloren und war unverheiratet geblieben. Sie führte Heimarbeit aus und konnte deshalb bei Bedarf jederzeit für die Betreuung des neuen Erdenbürgers zur Stelle sein.
Auf dem Schoße der Mutter, Foto 1924
Mein Großvater, der seinen Sohn und Geschäftsnachfolger durch den Krieg verloren hatte, übte seinen Beruf als Schmiedemeister noch aus, obwohl er dafür eigentlich schon zu alt war. Der Krieg und die nachfolgende Inflation hatten ihn wirtschaftlich ruiniert. Als Kleinkind habe ich ihn noch gemeinsam mit einem Gesellen in seiner Schmiede hantieren gesehen. Sie befand sich im Parterre unseres Hauses. Wenn man in das obere Stockwerk gelangen wollte, musste man auf einem mit Fließen belegten Gang an den drei nebeneinander aufgestellten Amboss Steinen vorbeigehen. Man sagte mir später, ich sei wie alle in diesem Hause geborenen Kinder, täglich in dem durch das Abschrecken von glühendem Stahl erwärmten Wasser aus Großvaters Schmiede gebadet worden. Noch zu einem viel späteren Zeitpunkt, als ich schon in Altenburg die Schulbank drückte und meinen Geburtsort nur noch in den Ferien aufsuchen konnte, begrüßte mich ein alter Nachbar jedes Mal mit den Worten: „D’r eis’nwass’rgebodene Fritz is wieder do!“
Dieser „eisenwassergebadete“ Nachwuchs im alten Schmiedehaus wuchs zu einem lebhaften und auch recht sensiblen Burschen heran. In dem alten Haus gab es genug Nischen, Treppen und Truhen, wo sich ein Dreikäsehoch verkriechen, wo er herumklettern und Unbekanntes aufstöbern konnte. Sein Temperament wurde nur gebremst, wenn er von den Erwachsenen einmal wieder eine jener Schauergeschichten aufgeschnappt hatte, die manchmal bei den abendlichen Gesprächen zum Besten gegeben wurden. Dann bekam das alte Haus für ihn ein gespenstisches Innenleben, sodass er sich nicht mehr sorglos in jeden Winkel zu kriechen traute. Viele Frauen in jener damals besonders armen Gegend waren oft bis in die tiefe Nacht hinein mit Heimarbeiten beschäftigt, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Da verband man gern die Pflicht zur Arbeit mit dem Angenehmen einer Unterhaltung, indem man sich reihum in den Wohnungen traf. Während die Frauen mit sicherer und flinker Hand feine Spitzenmuster aus Stoffbahnen ausschnitten, wozu kleine sehr scharfe Scheren benutzt wurden, liefen die Neuigkeiten aus der Stadt, manche Erinnerung an frühere bessere Zeiten und manchmal auch die schaurigsten Geschichten in der Runde. Je mehr ich davon mithörte, umso neugieriger wurde ich auf eine Fortsetzung des Geschichtenerzählens. Mein Widerstand gegen ein rechtzeitiges Zubettgehen