Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs
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Es kam der 30. Januar des Jahres 1933 heran. Wir hatten schneelose Wintertage. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, dass mich eines Tages die seltsame Art der Beflaggung der Häuser in unserer Straße beeindruckte. Als Achtjähriger nahm ich damals auch sonst nur die äußeren Erscheinungen des Geschehens wahr. Ich hatte ja schon viele Tage erlebt, an denen die Häuser Flaggenschmuck trugen. An diesem Tage fand ich es sehr merkwürdig, dass sich allein die Hakenkreuzfahnen in den kaltblauen Himmel reckten. Sonst waren jedenfalls die fahnenreichen Tage viel bunter. Da hob sich gewöhnlich ein Haus in unserer Straße durch besondere Farbenvielfalt heraus. In seinem ersten Stockwerk zeigte es sonst eine schwarz-weiß-rote und im zweiten Stockwerk eine schwarz-rot-goldene Fahne. Aus den beiden Wohnungen im obersten Stock hingegen wurden an Feiertagen jeweils eine rote Fahne mit und eine rote ohne Hakenkreuz nebeneinander gezeigt. Diesmal fehlte diese vertraute Vielfalt. Vielleicht hatte ich schon damals ein Gefühl für Beständigkeit, vielleicht fand ich es einfach nur langweilig. Jedenfalls gefiel mir die kalte Straße mit ihren vielen kalten Hakenkreuzen nicht sonderlich. Ich wusste noch nicht, wie leicht man sich an sowas gewöhnen kann, wenn es einem lange genug vor die Nase gehalten wird. Jedenfalls kannte ich die Bewohner jenes sonst so farbenprächtig geschmückten Hauses alle recht gut. Herr K., dessen Hakenkreuzfahne heute als einzige aus der oberen Etage wedelte, schnitt mir manchmal in seiner Wohnstube die Haare. Er war arbeitslos und hatte mehrere erwachsene Söhne. Familie Boost nebenan lebte in denselben ärmlichen Verhältnissen. Ihre Fahne fehlte heute. Die alten Leute lebten mit einer unverheirateten erwachsenen Tochter und deren Sohn Herbert zusammen. Mit ihm ging ich in die gleiche Schulklasse. Ich weiß noch, dass er gut zeichnen konnte. Besonders gern malte er Pferde, die er sehr liebte. Die Leute mit den beiden anderen Fahnen hielt ich für „vornehm“. Dieses Eigenschaftswort hatte ich bei den Erwachsenen aufgeschnappt, ohne dass ich recht wusste ob es mehr den Verstand oder den Besitzstand bezeichnen sollte. In die genannte Kategorie gehörte für mich jedenfalls der Hausbesitzer mit seiner schwarz-weiß-roten Fahne. Sie war später noch häufig neben der Hakenkreuzfahne zu sehen, bis sie sich eines Tages in eine ebensolche umgewandelt hatte. Jetzt schien sie noch als Ausnahmefall geduldet. Ein kalter Wind pfiff mir entgegen, als ich durch die Bahnunterführung ging, um irgendeine Besorgung zu erledigen. Von ferne trug der Wind Marschmusik aus der Stadt herüber. Lange hat mich der beobachtete Flaggenwechsel sicher nicht beschäftigt. Auch die Erwachsenen taten in den folgenden Tagen was sie immer schon getan hatten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass die Menschen, wie sonst ihre Ansichten zum Geschehen dieser Tage untereinander austauschten. Bestimmt wichen ihre Meinungen darüber ebenso weit voneinander ab wie ihre eingerollten Fahnen, die sie von nun an nicht mehr sehen ließen. Was meine Eltern vom Tage der Machtergreifung durch Hitler hielten, erfuhr ich ebenso wenig. Sie sprachen in meiner Gegenwart nicht über Politik. Mein Vater, inzwischen Lokheizer bei der Deutschen Reichsbahn geworden, war sicher froh, noch Arbeit zu haben. Eine Fahne besaß er jedenfalls nicht. Für einen angehenden Beamten war das vermutlich auch das Vernünftigste. Aus einem Vorfall, der sich einige Jahre vorher zugetragen hatte, möchte ich schließen, dass Hitler und seine Leute bei Wahlen wahrscheinlich nicht die Favoriten meiner Eltern gewesen sind. Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, da zeigte mir der jüngste Sohn der Familie K., wie man Hakenkreuze malt. Schließlich stiftete er mich dazu an, mit diesem mir unverständlichen Zeichen die Zaunlatten vor unserem Nachbarhause zu verzieren. Da ich den Jungen gut leiden konnte, tat ich was er verlangte. Die Reaktion meiner Mutter auf diese mühsame Kreidemalerei war ungewohnt heftig. Ich verstand meine sonst milde und gütig reagierende Mutter damals überhaupt nicht.
Ostern 1933 beendete ich mein zweites Schuljahr. Den täglichen Gang zur Schule nahm ich als einen Auftrag hin, der mir von den Erwachsenen zugewiesen und deshalb nicht zu umgehen war. In der Klasse saßen wir Schüler so lange still wie der Lehrer im Raum war. An seiner Autorität zweifelten wir nicht. Es war uns bewusst gemacht worden, dass Lehrer zu mächtig sind als dass man sich ihren Forderungen widersetzen durfte. Der Rohrstock gehörte seinerzeit noch zu den Arbeitsgeräten des Pädagogen. Er wurde erforderlichenfalls auch eingesetzt. Wie oft sich ein solches Erfordernis ergab, war von unserem Verhalten aber auch von der Mentalität des Lehrers abhängig. Mit diesem Instrument klassischer Knabenerziehung hatte ich schon im ersten Schuljahr nähere Bekanntschaft machen dürfen. Ursache war mein noch unterentwickeltes Bedürfnis zum Stillsitzen und das Bedürfnis des Klassenlehrers, von Beginn an seine Autorität unantastbar zu machen. Dieser Lehrer, den ich in der Folgezeit sehr schätzen lernte, schaffte eben einfach klare Beziehungen zwischen sich und seiner Klasse, indem er rasch und unmissverständlich zur Tat schritt. Aus meiner Kindheit habe ich noch immer den hierzu passenden Sinnspruch parat: „Was ein Häkchen werden will, das krümmt sich beizeiten.“ Ich konnte zwar nie begreifen, wozu ich ein Häkchen werden musste. Damals mochte ich wohl gedacht haben, dass dies die Erwachsenen schon wüssten, zumal selbst alte Leute diesen Spruch aufsagten. In dieser Hinsicht waren Eltern und Lehrer durchaus einer Meinung. Auch mein Vater huldigte dieser damals gängigen Erziehungsmethode, was bei seiner Neigung zum Jähzorn für mich manchmal sehr unangenehm werden konnte.
Klasse 1a der Nordschule in Altenburg; Foto: 1931
3. Die ersten Schuljahre
In unserer Schule umfasste mein Jahrgang etwa 100 bis 120 Kinder. Sie waren auf je eine Klasse für Jungen und eine für Mädchen aufgeteilt. Das restliche Drittel musste in einer gemischten Klasse unterrichtet werden. Ich befand mich in Klasse a, in der ausschließlichen Gesellschaft von Jungen. Unsere Ausrüstung bestand im ersten Schuljahr vor allem aus einer Schiefertafel, Schieferstiften zum Schreiben und einer Schwammdose, in der sich stets ein gut angefeuchteter Gummischwamm zu befinden hatte. Das Stillsitzen während des Unterrichts lernten wir ja einigermaßen schnell. Dagegen wurde das Kratzen der Buchstaben und Zahlen auf die Schiefertafeln anfangs recht beschwerlich für mich. Im zweiten Jahr verließen wir zum Glück diese steinzeitliche Methode und schrieben mit Bleistiften in richtige Schreibhefte. Am meisten gefielen mir die Fächer Lesen, Zeichnen und Turnen. Alles Übrige erforderte fleißiges Üben, wovon ich nicht viel hielt. Ich sah nicht ein, dass man von seiner Freizeit allzu viel für eine solche Dressur opfern sollte. Als größtes Übel empfand ich das sogenannte „Kleine Einmaleins“. Es gelangte vermutlich in der dritten Klasse auf den Unterrichtsplan, ohne dass mir die Nutzanwendung klargeworden war. Es ist ja bis heute so geblieben: Wenn Kinder etwas nicht einsehen können, dann stemmen sie sich dagegen. Meinen inneren Widerstand überwand mein Vater durch die einfache Aufforderung zum täglichen Üben. Das wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch Abfragen einer sogenannten „Reihe“ kontrolliert und zog bei Nichterfüllung der Norm Spielverbot außer Haus nach sich. Letzteres nannte man damals „Stubenarrest“. Es stellte sich alsbald der gewollte Erfolg auch ohne meine tiefere Einsicht in den Sinn der Sache ein. Zu meinem Besten hatte ich einen notwendigen Fortschritt gemacht. Man wird vermutlich über Methoden der Erziehung noch mancherlei bedenken müssen. Eines steht für mich heute fest, dass nämlich der den Deutschen meiner Generation nachgesagte unbedingte