Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs

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Blind am Rande des Abgrundes - Fritz Krebs

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Montag, 10. April 1933

       Altenburg. Werbeabend des Bundes Deutscher Mädel und des Deutschen Jungvolks …Jungbannführer Karl Seele legte die Ziele und die Arbeit klar …Unter Ablehnung der Konfessionsunterschiede schreite das Jungvolk zur Überwindung des Klassenbegriffs. Keine Parteipolitik, aber Erziehung zum deutschen Gedanken sei der Weg des Jungvolks.

       Mittwoch, 12. April 1933

       Das Arbeitsamt Altenburg berichtet …Die Zahl der Arbeitsuchenden betrug am Monatsende Februar 1933 15072.

      Das Jungvolkheim, in das uns Werner Quilitzsch am folgenden Mittwoch führte, lag an der „Neuen Sorge“, einer steilen Straße, die am Schlossgarten entlang hinauf zum Schloss führt. Das Haus, in dem sich das Heim befand, erkannte ich als dasjenige wieder, wo ich im Jahr vor meiner Einschulung einen Kindergarten besuchte -vermutlich damit ich lernen sollte stillzusitzen. Nun befand sich in den gleichen Räumen das Deutsche Jungvolk. Eigentlich war es noch immer eine Art Kindergarten denn, wie ich bald feststellen konnte, trafen sich hier nur die Jüngsten. Als wir eintraten, hatte der Heimabend soeben begonnen. Im Raum saßen etwa 15 Jungen an einer langen Tafel, an deren Stirnseite der Führer dieser Truppe stand. Er überprüfte gerade die Anwesenheit und so kamen wir noch rechtzeitig, um unsere Namen zu nennen und uns auf die nächststehenden Stühle zu schieben. Wie jener erste Heimnachmittag im Einzelnen ablief, weiß ich heute nicht mehr aber mit großer Begeisterung habe ich daran sicher nicht teilgenommen. Jedenfalls musste man auch hier stillsitzen wie in der Schule. Die Geschichte, die vorgelesen wurde, war eine Fortsetzungslesung. Die Lieder, die gesungen wurden, kannte ich nicht und viele Begriffe, die man verwendete, waren so neu, dass ich nichts damit anfangen konnte. Interessant fand ich den Jungzugführer. Das war der große sympathische Junge an der Stirnseite des Tisches. Er führte das Wort, nahm zum Schluss meine Personalien auf und gab allen irgendwelches Werbematerial aus, das wir bis zum nächsten Mal verteilen sollten. Schließlich mussten wir auf dem Hof in einer Linie Aufstellung nehmen. Man nannte das „Antreten“. Der nächste „Dienst“ sollte am Wochenende sein. Da gehe man ins „Gelände“. Solch neuen Begriffe schafften in meinem Kopf keine Klarheit über den Sinn des Ganzen. Weshalb ich aber von diesem Tage an immer wieder am Jungvolkdienst teilnahm, kann ich bis heute nicht genau beantworten. Jedenfalls hat Richard Köhler, der Jungzugführer, den wir „Hardchen“ nannten, mit seinen damals 16 Jahren großen Eindruck auf mich gemacht. Je mehr ich ihn kennenlernte, umso mehr entwickelte er sich zu einem Vorbild für mich, das er jedenfalls auch für seine übrigen Schützlinge war.

      Ich ging fortan mit zunehmendem Interesse Woche für Woche zum Jungvolkdienst, ohne zu begreifen wem ich eigentlich damit diente. Hardchen sagte uns, dass wir unserem Vaterlande dienten. Aber sowas sagte er nur selten und in ganz bestimmtem Zusammenhang. Er schien vielmehr darauf orientiert zu sein, uns während der Heimabende interessante und spannende Jungengeschichten oder Abenteuergeschichten vorzulesen. Noch heute weiß ich einige Titel zu nennen, die ich an jenen Mittwochnachmittagen hörte, so zum Beispiel: „Die Jungen von der Feuerburg“, „Tom Sawayers Abenteuer“, „Die Schatzinsel“ und andere sehr spannende Geschichten, in denen immer ein oder mehrere gewitzte Jungen im Mittelpunkt des Geschehens standen. Die Lieder, die wir sangen, handelten von Abenteuer und Seefahrt aber auch vom Landsknechts- und Soldatenleben. Auch in dieser Hinsicht wurden mir die Heimabende nach und nach interessant. Diese Lieder hatten Melodien, die sich in der Gruppe gut singen ließen und das Gemüt anrührten. Aus heutiger Sicht scheint mir, dass damals bei uns noch manche Übereinstimmung mit dem Leben in der bündischen Jugend bestanden hat. Lieder wie: „Die alten Männer von der hohen Wart, die haben alle das Krieg spielen satt …“ haben wir später jedenfalls nicht mehr gesungen. Es gab noch manche Lieder, die ich auch heute noch für alles andere als militaristisch halten kann. So zum Beispiel: „Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht …“, „Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer …“, „Frei liegt das Meer und die Eisberge ziehn …“ Ein von uns oft gesungener Liedtext wurde von dem Altenburger Landadeligen und bekannten deutschen Balladendichter Börries Freiherr von Münchhausen gedichtet. Es besingt den deutschen Bauernaufstand. Der Text der betreffenden Ballade beginnt mit den Worten: „Die Glocken stürmten vom Bernhardsturm“. Diese Lieder identifizierten uns mit der Geschichte unseres Landes. Ihre romantische Note entsprach unserer Gefühlswelt.

      Die an Wochenenden stattfindenden Ausflüge in die Umgebung unserer Stadt unterstützten unseren Hang nach Abenteuer und Erkundung der uns erreichbaren Teile der Welt, in die wir hineingeboren waren. Ob man diese Unternehmungen nun Spaziergang, Wanderung oder, wie im Jungvolk üblich, Fahrt nannte, war uns damals bestimmt gleichgültig. Nicht gleichgültig wurde uns jedoch immer mehr, ob wir mit dabei sein konnten oder nicht. Wir zogen in Gruppen von 10 bis 15 Jungen bei jedem Wetter mit unserem bunten Wimpel, einem Aluminiumkessel, den wir „Hordentopf“ nannten, sowie mit einem Vorrat an Suppenwürfeln , Erbswürsten und Puddingpulver ausgerüstet, über die Straßen unseres Heimatkreises. Was wir erlebten, kam unseren Vorstellungen vom Abenteuer nahe. Wir rasteten an einem Teich oder in einer Sandgrube, sammelten Brennholz, lernten eine Feuerstelle zum Kochen herzurichten und holten Wasser. Manche kleinen Gewässer führten seinerzeit noch klares und im abgekochten Zustand genießbares Wasser. Wenn es kochte, kamen die von zu Hause mitgebrachten Suppenwürfel oder Erbswürste in den Kessel. Manchmal war auch geplant Nudeln zu kochen. Da spielte es keine Rolle, ob jemand versehentlich Makkaroni mitgebracht hatte. Alles gelangte in den Hordentopf und was da wieder herauskam, hatte zu schmecken. Nudeln waren meistens versalzen aber niemand vergaß seinen Kochgeschirrdeckel zum Füllen hinzuhalten, wenn Hardchen die große Kelle schwang. Die Erwachsenen nannten uns den „Puddingzug“, weil bei der Vorbereitung von Fahrten fast immer zum Mitbringen von Puddingpulver aufgefordert wurde. In einem „Spezialtopf“ wurde ein Pudding von undefinierbarer Farbe gekocht, den wir noch warm als Nachspeise verdrückten. Darauf freuten wir uns jedes Mal ganz besonders. So gesehen, hatten wir ein primitives Essvergnügen. Man darf aber nicht vergessen, dass wir nicht so verwöhnt waren wie die uns nachfolgende Generation. Zum Frühstück oder bei der Rast war es üblich, dass nicht jeder sein mitgebrachtes belegtes Brot aß, sondern es wurden alle Brote auf eine Zeltplane gelegt. Davon verteilte Hardchen dann reihum an die im Kreis sitzenden Jungen. Ich muss gestehen, dass ich ganz schön bedeppert war, als ich die gut belegten Brote meiner Mutter zum ersten Mal gegen einen ziemlich dürren Brotkanten vertauscht sah. Solcherart lernten wir ein Verhalten in der Gemeinschaft, das wir mehr und mehr als etwas Selbstverständliches ansahen. Schließlich entwickelten wir sogar mit der Zeit ein ausgesprochenes Misstrauen solchen Jungen gegenüber, die bei jeder Gelegenheit zuerst an sich selbst dachten und ihren persönlichen Vorteil unter allen Umständen zu wahren suchten. „Kameradschaft“ wurde für uns allmählich zu einem festen Begriff für lobenswertes Verhalten in der Gemeinschaft. Was wir nicht bedachten: Kameradschaft konnte Menschenmassen eng zusammenschweißen, sie wurde zur Führung großer Menschenmassen gebraucht und sie sollte zur Verführung dieser Jugend missbraucht werden. Das wusste vermutlich auch unser selbstloser damaliger Jungzugführer nicht. Hardchen lebte uns einfach vor, was er unter Kameradschaft verstand. Wenn wir bei nasskaltem Regen auf der Landstraße wieder nach Hause zogen, dann kam es nicht selten vor, dass er einen der Schwächsten auf seinen Schultern trug. War jemandem von uns ein Missgeschick passiert - Hardchen war zur Stelle, um zu helfen. Das übertrug sich mit der Zeit auf jeden von uns. Rückschauend darf ich gestehen, ich empfand allmählich in dieser Gemeinschaft eine ziemliche Geborgenheit. Ich konnte noch nicht unterscheiden zwischen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die sich mit dem Fortschreiten des Erkenntnisprozesses entfalten und der Züchtung von Gruppenmerkmalen, die bestimmten Zwecken dienen sollen.

      In dieser Zeit begann eine neue Phase meiner Kindheit, die ich als die uniformierte bezeichnen möchte. Zunächst noch in schwarzer Hose und einem neuwaschenen weißen Hemd, auf das ein schwarzes Halstuch mit einem geflochtenen Lederknoten gebunden war, begab ich mich zweimal wöchentlich in die buntschillernde Welt des Deutschen Jungvolks. Während ich sie zu entdecken und zu erobern trachtete, ergriff sie stückweise von mir selbst Besitz.

      Die Absichten der neuen Machthaber waren aus heutiger Sicht leicht zu durchschauen. Leider kann man das immer nur im Nachhinein

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