Nach dem letzten Karfreitag. Johann Toth
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Die Geschichte des jungen „Toth-Opa“ soll vor allem Friedensmahnmal und Friedensbeitrag sein: Sie soll Frieden einmahnen, damit Jugendliche nie mehr Lebensmittel erbetteln (und stehlen) und an Wachposten vorbei in ein Lager schmuggeln müssen, um Angehörige vor dem Hungertod zu bewahren. Das Buch postuliert als Friedensbeitrag der Vertriebenen den historischen Schlussstrich und die Abstandnahme von Restitutions- oder Entschädigungsüberlegungen im vereinten Europa.
Das Buch endet mit einem zweifachen „happy end“: Mit der geglückten Flucht über das kommunistisch werdende Ungarn in die Freiheit nach Österreich als neue Heimat und – Jahrzehnte später – dem Besuch des Toth-Opa als Gast in seinem vormaligen Elternhaus bei dem seit damals darin wohnenden Besitzer als Gastgeber mit Handschlag, angeregter Unterhaltung in serbischer Sprache sowie anschließenden jährlichen Briefkontakten – respektvoll geführt in der jeweiligen Muttersprache des anderen.
Kapitel 1
ES WAR EINMAL KERNEI
Es war einmal Kernei. So nannten die etwa fünfeinhalbtausend deutschsprachigen Bewohner ihr Heimatdorf; die Serben nannten es Krnjaja und die Ungarn Kereny.
Ich war ein Kerneier. Nicht die Häuser, nicht die Felder oder Weingärten, die Menschen machen ein Dorf und seine Identität aus. Als die Kerneier 1945 vertrieben wurden, hörte Kernei zu existieren auf: Kernei ohne Kerneier ist nicht mehr Kernei. Auch die Ortsnamen Krnjaja und Kereny wurden abgeschafft. Für die alten Häuser mit neuen Bewohnern aus nahezu ganz Jugoslawien und die Felder und Weingärten mit neuem Eigentümer wurde auch ein neuer Name geschaffen: Kljajicevo.
Wer als Kerneier geboren wurde, bleibt es ein Leben lang: Einmal Kerneier, immer Kerneier. Als die Kerneier 1945 vertrieben wurden und hauptsächlich in Deutschland, Österreich und den USA eine neue Heimat gefunden haben, haben sie ihr altes Kernei aus Kinder- und Jugendtagen, das in der Realität längst zur Geschichte geworden war, vielleicht auch etwas verklärt, weiter in ihren Herzen getragen. Auch ich habe schon vor mehreren Jahrzehnten in Österreich eine neue Heimat gefunden und spreche seit mehreren Jahrzehnten akzentfrei „österreichisch“. Dennoch werde ich das alte Kernei meiner Kinder- und Jugendtage bis an mein Lebensende nicht vergessen und in meinem Herzen tragen.
Ich wurde als Kerneier in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich Jugoslawien) hineingeboren. Zu diesem Zeitpunkt waren Österreich-Ungarn und der Kaiser von Österreich und König von Ungarn bereits 11 Jahre Geschichte. Vorher – im Vielvölkerstaat „Österreich-Ungarn“ – muss es wohl selbstverständlicher gewesen sein, dass Deutschsprachige, Serben und Ungarn mit- und nebeneinander in einem gemeinsamen Staat lebten. Ich wurde aber damals als Kerneier in ein etwa 90 Prozent deutschsprachiges Dorf und in ein „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (Königreich Jugoslawien) hineingeboren; als „Schwob“ (Schwabe) mit deutscher Muttersprache und ungarisch klingendem Namen im „Königreich Jugoslawien“. Für die Orientierung war das eine nicht leichte Ausgangslage. Unser Leuchtturm, an dem wir uns festhielten, war die katholische Kirche und die Ortsgemeinschaft – unser Kernei.
Als ich als Jugendlicher mit Pferd und Wagen einmal in ein kleines Dorf namens „Guposin“ (Guposina) (ebenfalls in der Batschka gelegen) fuhr, sah ich einen – wahrscheinlich geistig behinderten – Mann (oder Narren), der an einem Telefonmasten stand und so tat, als ob er telefonieren würde und eine (Telefon-)Verbindung suchte: „Hallo! Wien – Berlin – Guposin“; dies wiederholte er oftmals. Natürlich lachten die umstehenden Leute ebenso wie ich. Später machte mich dies nachdenklich. „Narren und Kinder sagen die Wahrheit“ hieß es bei uns oft. Es war offenbar die Wahrheit, in die ich hineingeboren worden war: Die Residenzstadt Wien – der Vielvölkerstaat „Österreich-Ungarn“ – als Orientierung war Geschichte und nun begannen sich viele falsch zu orientieren: Richtung Berlin. Ohne zu ahnen, dass dies Unheil – auch das Ende von Kernei – mit sich bringen würde.
Als ich als Kerneier geboren wurde, hatte Kernei etwa 160 Jahre bestanden. Wir lernten in der Schule, dass im 18. Jahrhundert Prinz Eugen die Türken zurückgedrängt hatte und Maria Theresia unsere Vorfahren ansiedelte. „Der ersten Generation Tod, der zweiten Generation Not, der dritten Generation Brot“; so wurde uns unsere Siedlungsgeschichte eingetrichtert. Harte Arbeit und karge Not war den ersten Generationen der Ansiedler Schicksal gewesen. Dies bezeugte ein jedem Kerneier bekannter mündlich überlieferter Reim (mit ländlich-derbem Schlusssatz): „Ich werd‘ dir was verzählen, von den langen Ehlen, von den kurzen Wochen, haben wir nichts zu kochen, Vat’r schlacht‘ a Seichl, mir ein Werscht‘l, dir ein Werscht’l, mir ein Schunken, dir ein Schunken und der Sepp kann nur … austunken.“
Als ich geboren wurde, war das alte Kernei ein blühendes Dorf; zumindest in meiner verklärten Erinnerung. Wir waren Bauersleute und stolze Kerneier. Von den Bewohnern der Nachbardörfer gab es auch „Schmährufe“ über uns, wie etwa: „Kerneier, Nudelseiher, Quätschedrucker Bähhh!“ Wenn ich das hörte, hatte ich immer die feste Überzeugung, dass die, die das sagten, in Wirklichkeit nur neidisch waren, weil sie keine Kerneier waren.
Wir Kerneier waren einfache Bauersleute, die sich selbst versorgten. Geld hatten wir praktisch keines; wir waren naturverbunden und – auch weil wir nichts anderes kannten – glücklich mit dem, was wir hatten. Und wir waren streng katholisch.
Die Feste des Jahreskreises waren durch Ernte-, Kirchen- und Kirchweihfeste vorgegeben: Wenn ein selbst gefüttertes Schwein geschlachtet wurde, war Schlachtfest angesagt; wir sagten „Sauschlachten“ dazu. Man freute sich, dass die Fleischversorgung für die nächsten Monate gesichert war.
Für gestandene Mannsbilder war es nicht einfach, eine 150 bis 160 kg schwere Sau einzufangen, festzuhalten und mit dem großen Messer durch einen Herzstich abzuschlachten. Dabei wurde das Blut in einem Gefäß aufgefangen, gerührt, damit das Blut nicht ins Stocken gerät; dieses Blut wurde dann für die Blutwurst verwendet. Ein Schwein konnte nicht von einem Mann allein geschlachtet werden, es waren mindestens 2 Männer notwendig. Uns Kindern sagte man, ihr könntet helfen und das „Schwanzerl halten“; dies war aber nur spaßhalber. Tatsächlich war kein Kind in die Nähe, wenn das Schwein geschlachtet wurde.
Die geschlachtete Sau wurde in der Mitte geöffnet, es wurden die Gedärme herausgenommen und gewaschen; die Gedärme waren für die Wursterzeugung – Blutwurst und „Brotwerscht“ – notwendig. Dabei wurde der Dickdarm für die Blutwurst und der Dünndarm für die „Brotwerscht“ verwendet. Der gereinigte Magen fand für Presswurst Verwendung; diesen nannten wir „Schwartamaga“; dabei wurden die „Schwartln“ (Haut des Schweins) und etwas faschiertes Bratwurstfleisch verwendet. Das Bauchflausch wurde teilweise für Speck verwendet; der Rest kam in die „Brotwerscht“.
Nach dem Zerlegen des Schweines und Sortieren (Fleisch zu Fleisch und Speck zu Speck) wurde der Speck erhitzt und flüssig gemacht; dies nannten wir „Schmalzauslassen“. Der Speck wurde eingesurt und später geselcht; gleiches gilt für das „Schunkafleisch“. Das ausgelassene Schmalz wurde in einem Gefäß gelagert; damals wurde ausschließlich noch mit Schmalz gekocht.
Auch haben meine Eltern damals Sulz gemacht: Die Ohren und die Füße wurden gereinigt, geteilt und gekocht und wurde daraus in Tellern Sulz abgefüllt, das durch Abkühlen dann „sulzig“ geworden ist.
So wurden fast alle Teile