Die Stunde der Kurden. Hans-Joachim Löwer
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„Das war aber noch nicht alles“, fügt Tahsin hinzu. „Oft hat ein Wärter sich noch an mich gehängt, um meine Schmerzen zu erhöhen. Und der Verhörspezialist, der vor mir am Schreibtisch saß, ließ Stromkabel an meinen Genitalien anbringen – so haben sie uns zusätzlich mit Elektroschocks gequält.“ Acht Mal hat er hier an der Decke gehangen und acht Mal hat er den Mund nicht aufgemacht. Er bemerkt meinen fassungslosen Blick. „Ja, stimmt schon“, meint er, „in diesem Raum haben fast alle gestanden. Aber ich eben nicht.“
„Woher hatten Sie nur die Kraft, das zu überstehen?“, stoße ich hervor.
„Wir alle, die Peschmerga waren, wussten von Anfang, dass im Ernstfall der Tod auf uns wartet. Der Name ‚Peschmerga‘ sagt es ja aus. Außerdem wussten wir aber auch: Wer gesteht, rettet sein Leben eben nicht. Alle, die hier etwas preisgegeben haben, wurden nach ihrer Aussage erschossen. Durchhalten war also der einzige Weg, um am Leben zu bleiben. Und solange du lebst, lebt die Hoffnung in dir.“
Ich atme schwer, als wir den Raum verlassen. Doch die Hoffnung, erzählt Tahsin, ging tatsächlich in Erfüllung. Im März 1991 brach in Sulaimania, wie in allen Kurdengebieten, der letzte große Aufstand los. Die Kurden glaubten, nun sei ihre Stunde gekommen, weil die Amerikaner Kuwait befreit hatten und auf Bagdad vorrückten. Amna Suraka wurde vom Volk gestürmt, Tahsin aus seiner Zelle befreit, wie alle anderen Häftlinge auch. „Ich wog zwar nur noch vierzig Kilogramm“, sagt er. „Aber ich war am Leben geblieben.“
In den Büros der Geheimdienstleute gingen fast alle Akten in Flammen auf. Tahsin aber war klüger als die entfesselte Menge. Er füllte einen Sack bis oben hin mit Dokumenten, den schleppte er aus dem Gefängnis heraus. Der Weg zum Ausgang war mit Leichen übersät, alle erschossene Sicherheitsleute. „Glauben Sie mir, ich suchte mir mühsam einen Weg zwischen ihnen hindurch. Auf tote Körper treten – das ist doch irgendwie unmenschlich, oder?“
Vergossenes Blut für die kurdische Fahne: Darstellung im ehemaligen Gefängnis Amna Suraka
Wir gehen zusammen ins Obergeschoss. Dort hat Ako Ghareb, der Museumsdirektor, mit künstlerisch-kreativen Mitteln einen Raum zur Erinnerung an die Operation „Anfal“ gestaltet. Einst hatten Geheimdienstler in höheren Rängen hier einen direkten Verbindungsflur von ihren Büros zur Kantine. Nun ist daraus eine glitzernde Halle geworden, 24 Meter lang, 5 Meter breit, 5,5 Meter hoch, mit 182.000 Spiegelglassplittern, die die Zahl der Opfer repräsentieren. In einer Ecke hängen Karten mit farbigen Pfeilen, die Saddams Vernichtungskrieg generalstabsmäßig darstellen, und die Namensliste der Toten zieht sich – Rot auf Schwarz – schier endlos die Wände entlang. An der Decke leuchten 4500 kleine Lämpchen, sie symbolisieren die Zahl der zerstörten Dörfer. „Die Lichter sollen aussehen wie Sterne“, erklärt Ako. „Die Sterne sind die einzigen Zeugen, die wir haben.“
„Kommen Sie noch mit auf einen Tee?“, fragt Tahsin, der Mann, der dies alles überstand. „Mein Büro liegt gleich hier um die Ecke.“ 2006 bis 2009 war er Minister für Wasservorkommen, nun führt er ein Ingenieurbüro. Es liegt gerade mal 100 Meter von Amna Suraka entfernt.
„Hätten Sie sich“, so frage ich, „nicht eine schönere Nachbarschaft aussuchen können?“
„Mein Mithäftling Dr. Kamaran Karadachi hat es noch viel besser“, sagt er und lacht nun ganz herzhaft. „Er ist Lungenspezialist und hat eine eigene Klinik. Sehen Sie das Gebäude da drüben? Es liegt dem Ex-Gefängnis genau gegenüber. Wenn er will, kann er jeden Tag von seinen oberen Stockwerken aus mitten hineinschauen.“
Dann aber wird er ernst. Er meint, früher seien die Peschmerga-Führer nichts weiter als die Ersten unter Gleichen gewesen – „vergleichen Sie das einmal mit heute“. Früher seien die Kurden im Leiden geeint gewesen – heute drifte die Gesellschaft immer mehr auseinander. Der Kampf, für den er seine ganze Jugend hergab, sei noch immer nicht zu Ende. „Wir müssen jetzt“, sagt er, „den Kampf im Innern gewinnen – und das ist schwerer als gegen den Feind von außen.“
ERBIL
Ein Taxifahrer, der Englisch spricht? Äußerst ungewöhnlich in Kurdistan. Kurdisch, Arabisch, Türkisch – das haben sie alle drauf. Aber Englisch? Das hier muss ein Sonderfall sein.
„Ich bin Lehrer“, verrät der Mann am Steuer. „Seit zwei Monaten kriege ich kein Gehalt mehr. Normalerweise erhalten wir es aus Bagdad. Aber aus dem Geldhahn dort kommt es jetzt nur noch tropfenweise. So musste ich mir halt einen zweiten Job zulegen.“
KAPITEL 5
HALABDSCHA
„Nur Alter und Tod können mich stoppen“
Weshalb ein verkrüppelter Minenräumer weitermacht
Was war er für ein kühner junger Kerl! Seine Kameraden konnten oft gar nicht hinsehen, wenn er bei der Arbeit war. Er legte sich der Länge nach auf den Bauch und robbte zentimeterweise vor. Seine Hände tasteten sich vorsichtig durch das Dunkel der Nacht. War da irgendwo ein Stolperdraht, der quer durch das Gelände verlief? Oder saß da, per Hand vergraben, ein kleiner Sprengkopf im Boden? Hoschiar Ali wusste, dass er in die Luft fliegen würde, wenn er auch nur ein wenig zu stark an so etwas stieße. Das Teufelszeug, das er im Gelände suchte, waren Minen. Er war Mitte zwanzig und hatte sich, das war Ehrensache zu jener Zeit, den Peschmerga angeschlossen. Diese kamen nachts von den Bergen herunter und griffen Militärbasen an, auf denen die irakische Armee stationiert war. Seit 1986 hatten die Kurden dieses Ass in ihren Reihen. Hoschiar buddelte ihnen, durch das Geschick seiner Hände, jeweils einen zwei Meter breiten Korridor frei, durch den sie dann ihre Attacke starteten.
„Ich habe mir das alles praktisch selber beigebracht“, sagt er. „Nach kurzer Zeit wusste ich schon genau, wie die Soldaten ihre Minen legten und wie groß die Abstände zwischen den Sprengfallen waren.“ Wir sitzen im Wohnzimmer seines Hauses in Halabdscha, in einer Ecke steht eine ganze Kollektion von Minen, und Hoschiar, Jahrgang 1963, erzählt aus seinem verrückten Leben. Er ist der nächste Kurde, bei dem ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme.
1991, als die Vereinten Nationen eine Schutzzone für die Kurden einrichteten, überfluteten internationale Hilfsorganisationen den Nordirak. Sie machten sich daran, Millionen von Minen aufzuspüren und zu entschärfen, die große Teile des Landes schlicht unbewohnbar machten. Wenn Menschen in die Berge zurückkehrten, um ihre von Saddam Hussein zerstörten Dörfer wiederaufzubauen, liefen sie Gefahr, bei der Feldarbeit auf vermintes Gelände zu geraten, ihre Kühe und Schafe durch Explosionen zerrissen zu sehen. Viele Dorfbewohner waren unzufrieden mit dem Tempo, das die Experten aus dem Ausland an den Tag legten. Da fiel ihnen dieser Teufelskerl aus Halabdscha wieder ein, von dem die Peschmerga so oft erzählt hatten. „Ruft ihn doch einfach an“, hieß es dann. „Der fackelt nicht lange. Der legt einfach los.“
„Ich habe jedem meine Telefonnummer gegeben, der mich danach fragte“, berichtet Hoschiar heute. „So sind mit der Zeit immer mehr Anrufe gekommen.“ Seine Eltern waren dem Giftgasangriff auf Halabdscha zum Opfer gefallen, daher hatte er auch niemanden, der ihn ernsthaft zurückzuhalten versuchte. „Ich habe so viel Sterben gesehen –