Die Ratte kommt. Lydia Drosberg

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Die Ratte kommt - Lydia Drosberg

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Küken zu stehen. Im Stall über den Hühnern sieht man die Luke zum Heuboden. Dort kann man wunderbar im Heu toben.

      Draußen stinkt es mächtig nach Mist. Auf dem Misthaufen thront der Hahn. Da fällt mir die Geschichte vom Hahn ein, der nicht mehr krähen will. Dem hatte man den Kopf abgeschlagen und der ist dennoch im Hof noch ein paar Runden gelaufen. – Wie gruselig! – Das hat mir Erwin erzählt.

      Hinterm Misthaufen befindet sich das Klo, auch „Donnerbalken“ genannt. Dort gehe ich nicht gerne rauf. Erstens stinkt es entsetzlich. Zweitens friert man sich im Winter den Arsch ab. Und drittens ist es so ekelhaft, da drauf zu sitzen. Man hat immer das Gefühl, einer grabscht einem gleich von unten an den Po. Ich bin ganz ehrlich froh, dass wir zu Hause ein Wasserklo besitzen.

      Dann gibt es noch die große Scheune, an deren Wand der Hund angekettet ist. Ich begegne ihm immer mit großem Respekt, denn ich will nicht so enden wie die Nachbarstochter, die von einem Hund ins Gesicht gebissen wurde. Die Ärzte verpflanzten ihr ein Stück Fleisch vom Schenkel ins Gesicht. Die Wange sieht noch immer sehr seltsam aus, als wenn Gelee mit Narben durchzogen ist. Der Hund wurde zur Strafe eingeschläfert.

      Auf der rechten Seite im kleinen Holzhaus steht Erwins Funkanlage. Funken ist seine große Leidenschaft. Wo er das Wissen dafür her hat, weiß kein Mensch. Er baute sein „Schätzchen“ ganz allein zusammen. Was alle sehr verwundert, denn in der Schule muss er jede Klasse zweimal besuchen. Somit kann er nicht der Hellste sein. Auf diesem Gebiet hat er jedenfalls ordentlich was drauf. Und er hört damit heimlich den Polizeifunk ab. Da wäre er beinahe erwischt worden. Ein Helikopter flog schon ganz dicht über Tante Sonjas Haus. Zum Glück konnten sie Erwins Anlage nicht orten und zogen gleich wieder ab. Das hätte Tante Sonja noch gefehlt. Ein Spion in ihrer Familie.

      Als ich in diesem Raum stehe, fällt mir eine Begebenheit mit Erwin ein: Ich saß mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl. Erwin fragte mich: „Wollen wir mal schauen, ob deine Muschi schon groß genug ist?“ So wie er es sagte, hörte es sich ganz harmlos an. Doch wie er sich über mich beugte und meinen Schlüpfer ein wenig zur Seite zog, war es mir gar nicht mehr so angenehm. „Nein, dein Loch ist noch zu klein“, meinte er und wir sprachen nie wieder ein Wort darüber.

      Meine Schwestern kennen ihn ganz anders und berichten, dass Erwin ein ganz süßer ist und so lieb wie Tante Sonja. Sie lassen sich Märchen von ihm unter der Bettdecke erzählen. Erwin bringt alles durcheinander und erzählt die Geschichten quer durch den Gemüsegarten. Er fängt zum Beispiel mit Schneewittchen an und endet mit Frau Holle.

      Meine Schwestern müssen öfter mal unter der Bettdecke hervor kriechen, weil sie ihre eigenen schlecht riechenden Pupse nicht ertragen können. Doch Erwin lässt sich davon nicht beirren. Mittlerweile ist er beim Froschkönig angekommen. Alle sind sie wieder unter der Decke, nur Erwin hört abrupt auf zu erzählen.

      „Aber Erwin, warum erzählst du denn nicht weiter“, fragen meine Schwestern.

      „Ach, ich hab die letzte Strophe vergessen“, sagt er ganz unschuldig.

      Meine Schwestern reißen sich wegen des Gestanks und vor Lachen die Decke vom Kopf.

      Erwin sitzt jetzt auch im Freien und japst nach Luft: „Mann, hat das da unten gestunken! Habt ihr etwa gepupst?“, fragt er.

      Da können sich meine Schwestern nicht mehr halten vor Lachen.

      Eine Zeit lang versucht Erwin wie ein Hund zu essen. „Erwin, warum machst du das?“, wollen meine Schwestern wissen. Doch Erwin bewegt nur die Schultern nach oben und weiß auch nicht, warum er das tut. Aber aufhören will er damit auch nicht. „So ist er eben“, meinen meine Schwestern.

      Hinterm Hof besitzen Tante Sonja und Onkel Gert noch ein Stück Land. Neben dem Haus befindet sich der Obst- und Gemüsegarten. Hier habe ich entdeckt, dass Stachelbeeren auch süß und in einer kräftigen roten oder gelben Farbe vorkommen können. Bei uns zu Hause werden die Dinger immer nur grün gegessen. Ich habe sie deshalb zuvor noch nie reif sehen.

      Onkel Gert macht manchmal mit mir lustige Späße. Die fangen mit „Na Püppchen“ an und enden mit „Nicht Püppchen?“ Alles was er mir dazwischen erzählt verstehe ich überhaupt nicht, auch wenn ich mir noch so große Mühe gebe. Da er dabei übers ganze Gesicht lacht, muss es sich doch um einen Spaß handeln! Oder nicht!?

      Onkel Gert hat zu einem Schnäpschen eingeladen. Bevor meine Eltern mit mir nach Hause fahren, will er mit Vati noch schnell einen heben. Er holt den guten Schnaps raus und die beiden trinken davon. „Auf dein Wohl, Heinz“, sagt Onkel Gert.

      „Prost! Der war bestimmt teuer“, meint mein Vater. Er kippt den Schnaps runter und sagt anerkennend: „Der ist ja richtig gut!“ Und Onkel Gert freut sich über das Kompliment.

      Den Wein machen sie selber. Aus den Früchten, die der Garten so hergibt, und mit einer Anlage, die im Keller steht. Den gönnen sich Mutti und Tante Sonja. Beim Trinken erzählt sie, dass sie Erwin schon mal unterm Weinballon erwischt hat. „Stell dir vor, Lydia“, sagt sie, „da liegt er einfach so auf der Erde unter dem Ballon mit dem Ablaufschlauch im Mund und ist stinkbesoffen.“

      „Na, da konnte er ja nicht mal mehr umfallen“, meint meine Mutter belustigt und sie gackern sich einen ab.

      Nach dem dritten Schnaps fängt Onkel Gert wieder so ein Gespräch mit mir an. Ich schaue ihm ins Gesicht. Er grinst und zeigt dabei zwei tadellose Zahnreihen. Onkel Gert hat ja neue Zähne, denke ich erfreut. Die sehen aber toll aus! Jetzt sieht er nicht mehr so faltig wie eine Backpflaume um den Mund herum aus. Was Zähne so alles ausmachen, staune ich. Solche Zähne würde ich auch gerne haben, da hat man gleich ein viel schöneres Lächeln, geht es mir durch den Kopf. Doch ich bin sehr enttäuscht, dass er mit den neuen Zähnen genauso schlecht sprechen kann, wie mit den alten. Denn ich kann ihn immer noch nicht verstehen. Mein Vater erkennt das Dilemma und versucht ein wenig zu übersetzen. Doch da jeder weitere Satz von mir nicht verstanden wird, merken alle Beteiligten sehr schnell, dass es keinen Sinn macht, wenn Onkel Gert sich mit mir unterhält. Deshalb schaue ich mir lieber den bunt geschmückten Weihnachtsbaum von Tante Sonja an. Am Baum hängen wunderschöne mund-geblasene Vögel und kleine Körbchen aus dem gleichen Material. Viel Lametta verschönert den Baum.

      „Nein, kein Schnaps mehr! Wir müssen jetzt los, sonst verpassen wir noch unseren Zug“, höre ich meinen Vater sagen. So stiefeln wir los.

      Mein Vater rennt immer voran und Mutti und ich hinterher. Bei Tante Elsa kehren wir nicht ein, obwohl wir, wenn wir zum Zug gehen, immer an ihrem Haus vorbei kommen. Meine Schwestern erzählten mir, dass Onkel Otto nicht so nett zu Tante Elsa ist. Er hat sie sogar mal in Eiseskälte ausgesperrt. Bei Familienfeiern stänkert er so lange mit Onkel Franz, bis der heulend am Tisch sitzt und ganz fertig ist. Mit dem scheint nicht gut Kirschen essen zu sein. Deshalb gehe ich mit viel Respekt an seinem Haus vorbei.

      Als wir kurz vor der Schranke sind, fängt Vati an zu rennen. „Los beeilt euch“, ruft mein Vater gehetzt. Mutti beeilt sich so schnell sie kann, ihr ist die Anstrengung schon ins Gesicht geschrieben. Das kann sie gar nicht leiden, von Vati immer so gehetzt zu werden. Als wir auf dem Bahnsteig ankommen, dauert es noch eine ganze Weile bis die Schranke runtergeht.

      ,Typisch Vati!’, wird Mutti wahrscheinlich jetzt wieder denken.

      Wenn wir verreisen und mit unseren Koffern zur Straßenbahn laufen, ist die Situation fast dieselbe. Dann rennt mein Vater von der Freiheit beflügelt

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