Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

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Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth

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Feuer, schweres Feuer. Ich bohre meine Stirn in die Erde, ich quetsche meine Wange an die Grabenwand. Ich muss mich entleeren, schnell, sonst geht es in die Hose. Dabei kriegen die Russen das Feuer, nicht wir. Ich dränge schnell den Gedanken weg, selbst unter solchem Feuer zu liegen. Nein, nicht so etwas denken. Ich uriniere, dabei bin ich schon völlig entwässert. Alfred hält sich die Ohren zu, aber es nützt nichts, das Tosen ist zu gewaltig. Oberleutnant Zillner drängt sich wieder durch den Graben. Wir atmen etwas durch. Dieser Mann lässt uns nicht im Stich, er wird uns führen, wir vertrauen ihm. Den Major und den Oberst sollen von mir aus die Geier fressen, aber für Oberleutnant Zillner gehen wir ins Gefecht.

      Die Parole wird ausgegeben. Vier Stunden Trommelfeuer.

      Noch vier Stunden dieses Wüten der gigantischen Bestie. Blutgeifernd und tödlich. Moderne deutsche Artillerie schießt nicht ziellos in die Gegend, sondern nach genauen Plänen. Die deutsche Artillerie schießt nach Vorschrift. Die Granaten pflügen drüben auf der anderen Seite der Front den Boden um. Der eiserne Pflug des großen Krieges, vor Hunderte Kanonenrohre gespannt und von Tausenden Marionetten in grauen Uniformen vorangepeitscht, furcht die Erde auf der Suche nach Menschenfleisch. Da wird der Pflug fündig, das ist schön, dort kann er Knochen zermörsern, Arterien zerfetzen und das dampfende Fleisch in den Boden wühlen. Vielleicht gedeiht ja dereinst daraus eine neue Saat. Blutsturz auf Erden.

      Ich glaube, ich habe Fieber gekriegt. Von einer Sekunde auf die andere. Ich zittere schon. Ich will nach Hause. Pepi rempelt mich an. Ich blicke in die Richtung, in denen ich seine Augen vermute. Pepi ist ein guter Soldat, vielleicht der beste unseres Regiments. Pepi soll General werden und Oberleutnant Zillner Armeeoberkommandant.

      Das Brüllen nimmt kein Ende, immer weiter, immer weiter, aus Hunderten Granaten werden Tausende, aus Tausenden werden Zehntausende. Die Flammen der Welt gebündelt auf ein paar zerfurchte Wiesen in Galizien. Die Sonne geht auf und steigt hoch und höher. Sie rümpft erschrocken die Nase. Was soll das Gepolter in diesem Erdteil? Ja gibt’s denn so etwas, so ein Wirbel. Und dennoch schaut sie auf das irre Gewühl herab. Neugierig? Mit krankhaftem Vergnügen? Da, ein paar Einschläge direkt vor unserem Graben. Schießt die deutsche Artillerie so schlecht? Nein, das sind russische Granaten, vier, fünf, sechs Einschläge, mehr nicht. Sechs Granaten gegen zehntausend. Dort, russisches Schrapnell. Drei, vier weiße Wolken im Himmel und danach der Eisenregen. Ungefährlich, denn die Russen schießen ungenau und wir hocken mit eingezogenen Köpfen in den Schützengräben. Das ist keine Gegenwehr, das ist Verzweiflung. Die Granaten heulen und fauchen, pausenlos ziehen sie ihre Bahnen im Himmel und drängen zur Erde. Die Bestie schlägt ihre Reißzähne in die Flanke des Opfers. Wir sind blinde Tiere, Schlachtvieh, und die Kriegsmaschine treibt uns zum Hackstock. Aber das Feuer gilt nicht meinen Kameraden und mir, es gilt den anderen, also muss es uns gleichgültig sein, egal, einerlei. Wir haben zu warten. Quälend langsam verrinnt die Zeit, jede Minute wird zur Stunde. Zähe Zeit. Wie lange können einem vier Stunden vorkommen? Wie vier Ewigkeiten.

      Ich erstarre. Meine Lider zucken unaufhörlich. Die Artillerie schweigt. Das Rumoren und Tosen verhallt. Einen Augenblick lang glaube ich mitten in der Wüste Gobi zu sein, so still kommt es mir vor. Totenstille. Aber nur kurz. Die Trillerpfeifen durchschneiden die Stille. Oberleutnant Zillner hält in der linken Hand seine Pistole, in der rechten die Trillerpfeife. Seine Wangen sind der Blasebalg und der schrille Ton kreischt in unseren Ohren.

      Die Leiter ran an die Grabenwand und hinauf, hinauf, hinauf, über die Brustwehr hinauf. 3. Bataillon Marsch vorwärts. Ich will nicht den schützenden Graben verlassen, ich will nicht, ich will einfach nicht hinauf, raus aus der Deckung, ran an den Feind. Krachende Gewehre, immer mehr krachende Gewehre. Und da, das Tacken eines MGs. Ich steige die Leiter hoch und renne gebückt los. Geradeaus, dann ein Stück links, ein Stück rechts, wieder geradeaus. Ich habe keine Angst mehr, ich habe einfach keine Zeit, um Angst zu haben, ich bin ein Infanterist von Hunderttausenden und gehe im feindlichen Feuer vor. Russische Artillerie mischt sich mit Schrapnell ins Geschehen. Vor uns die erste feindliche Linie. Vierzig Meter vielleicht noch, aber kein Gewehrfeuer. Wo sind die Russen? Mir pfeift plötzlich etwas um die Ohren. Und wieder. Ich denke, jetzt musst du zu Boden, aber mein Körper reagiert schneller als mein Geist, denn ich liege schon längst. Flankenfeuer. Also sind die Russen dort. Bis mein Gewehr angelegt ist, vergeht eine Ewigkeit. Vor mir liegt eine hechtgraue Uniform, aus der literweise Blut hervorsprudelt. Ich schieße, nur sehe ich nicht, wohin meine Kugeln fliegen. Irgendwo auf den Gegner zu. Pepi springt hoch und rennt los. Ich denke, immer Pepi nach, aber wieder bin ich viel zu langsam mit dem Denken, denn ich renne schon. Knapp vor mir Bittermann, ein Weinbauernsohn aus Klosterneuburg. Er fängt die Kugel, die mir gegolten hat. Armschuss, wenn ich richtig gesehen habe. Drei Schritte noch, drei Schritte, dann gehe ich wieder zu Boden. Wieder lege ich an und schieße irgendwohin. Nur keinen Kameraden treffen, denke ich, und schnell nachladen. Jetzt kommt frontales MG-Feuer. Wir graben uns mit den Fingernägeln in den Boden. Frontales MG- und Gewehrfeuer, über uns Schrapnell. Sie stampfen uns in den Boden, sie mähen uns mit dem MG schlicht und einfach nieder. Ich höre ein helles, schwirrendes Pfeifen. Ich habe die Tonleiter des Artilleriekrieges noch nicht heraus und lerne jetzt. So klingen Minenwerfer. Ploppende Einschläge in der russischen Linie, immer wieder ploppende Einschläge in der ersten russischen Linie. Das MG verstummt, also springe ich hoch und hechte los. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass ich der Erste bin, der losrennt, noch vor Pepi. Die Minen ziehen über unsere Köpfe und suchen tiefer im Feindesland nach Zielen. Ich hüpfe über Granattrichter voran und kriege kein Gewehrfeuer. Immer dichter werden die Trichter. Kugeln. Also doch Gewehrfeuer. Decken. Ich lande in einem Trichter eines großen Kalibers und sehe direkt neben mir Alfred, Otto und einen vierten Mann unseres Bataillons. Er blutet stark aus einer Wunde an der Schulter. Otto beugt sich zu ihm hinüber und drückt seine klobigen Finger in die Wunde. Es nützt nichts, das Blut strömt weiter.

      „Sanitäter! Sanitäter!“, brüllt Otto.

      Nutzlos, kein Sanitäter ist hier zu finden. Nur Gewehrfeuer. Wo Otto seine Waffe fallen lassen hat, frage ich mich. Aber ihm geht sein Gewehr gar nicht ab. Otto nimmt den Verwundeten wie ein Vater sein Neugeborenes, springt auf und rennt los. Hoch aufragend inmitten des Gefechtes, inmitten tödlich schwirrender Insekten läuft er los wie ein zappelnder Pappkamerad und bringt den Verwundeten nach hinten. Alfred und ich starren ihm bleich hinterher, über unseren Köpfen zischen die Kugeln. Otto rennt hakenschlagend nach hinten, quer durch das in Deckung liegende Regiment. Alle sehen ihn und denken, jetzt fällt er, jetzt fällt er, gleich ist er tot. Aber Otto rennt und rennt, keine Spur einer Kugel, die sich in seinen Rücken bohren will. Er verschwindet aus meinem Blickfeld.

      Ich spähe vor, noch zehn Meter. Alfred und ich springen hoch, rennen und stürzen in den russischen Schützengraben. Alfred richtet sein Gewehr links und feuert, ich richte meines rechts und feuere. Ins Leere. Meine Schuhe sinken in den offenen Brustkorb eines toten Russen. Ich strample und hüpfe weg, steige dabei bloß einem anderen Russen auf die Beine. Oder genauer, ich steige nur auf die Beine, wo der Russe liegt, weiß ich nicht. Ein Blutbecken im Schlachthof. Wie viele liegen da? Zwölf, fünfzehn, zwanzig? Alle zerschmettert, grotesk übereinandergeworfen. Menschenteilesalat, denke ich. Blöde Russen, seid ihr vollkommen übergeschnappt, so ein Schützengraben taugt nicht einmal für Gewehrduelle, und ihr bleibt da hocken, wenn die deutsche Artillerie trommelt. Ihr dummen Kerle, zieht euch an, wascht euch die Hände und das Gesicht und geht nach Hause. So etwas Blödes, der Graben ist nicht tief genug, der kann euch ja nicht schützen. Aber jetzt begreife ich erst, warum die Minenwerfer so wüten konnten. Steilfeuer. Sie zerhauen nicht mit großem Kaliber den gesamten Graben, um an die Soldaten zu kommen, sondern schmeißen die Granaten schlicht und einfach in die Schützengräben. Teuflische Waffen. Alfred übergibt sich. Er speit dabei auf ein am Boden liegendes Maschinengewehr. Vor mir steht aufrecht ein Stiefel, aus dem noch ein Bein ragt. Ich sehe den weißen Knochen und das schillernde Mark. Und es riecht nach einem Ozean frischen Blutes. Erst jetzt entdecke ich zwei völlig verstörte Russen, die mich in irrer Todesangst anstarren. Sie erheben die Hände, sie ergeben sich. Fast hätte ich in Panik auf sie geschossen. Mein Gewehr ist auf sie gerichtet. Sie sind völlig dreck- und blutverschmiert, aber sie leben. Pepi und einige andere springen in den

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