Schirach. Oliver Rathkolb

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Schirach - Oliver Rathkolb

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neun Seiten lange Selbstdarstellung anlässlich seiner Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien am 8. August 1940.4 Teilweise stimmt diese auch mit dem Datengerüst der Autobiografie Schirachs, Ich glaubte an Hitler (1967), die von zwei Journalisten als Interviewer und Ghostwriter verfasst wurde,5 überein. In dem Dokument von 1940 wurde aber kein Wort über die US-amerikanische Herkunft seiner Mutter verloren.

      Sein Vater Carl Baily Norris von Schirach (1873–1948) war, bevor er in das Garde-Kürassier-Regiment in Berlin eintrat, Staatsbürger der USA gewesen. 1908 quittierte er den Dienst und wurde zum Generalintendanten des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar bestellt. Baldurs Urgroßvater Karl Benedikt von Schirach (1790–1864) war 1855 in die USA ausgewandert, sein Großvater Friedrich Karl von Schirach (1842–1917) brachte es bis zum Major der US-Army und heiratete die Amerikanerin Elizabeth Baily Norris (1833–1873) aus Baltimore (Maryland). Baldur von Schirachs Mutter Emma Middleton Lynah Tillou (1872–1944) stammte ebenfalls aus den USA, und zwar aus Chestnut Hill, einem Vorort von Philadelphia. In seinem tabellarischen Lebenslauf von 1940 verschwieg er auch, dass er bis zu seinem sechsten Lebensjahr in einem ausschließlich englischsprachigen Umfeld aufgewachsen war und ein Jahr später als vorgesehen in die Schule ging, um vorbereitend noch fließend Deutsch zu lernen.

      1939 veröffentlichte Max von Schirach, ein Cousin Baldurs, eine umfangreiche Familiengeschichte6, in der auch die US-Verbindungen detailliert aufgeführt wurden. Offensichtlich passte dies jedoch nicht in die nationalsozialistische Propagandalinie, denn im offiziellen langen Lebenslauf aus der NS-Zeit wird auf die engen Verbindungen seiner Familie zu den USA nicht eingegangen. Erst in seinen Memoiren wagt es Schirach dann, ausführlicher von seinen amerikanischen Familienangehörigen zu erzählen.

      Die durchaus aristokratisch-herrschaftlichen Lebensumstände seiner Eltern fanden da keine Erwähnung. Selbst innerhalb der Familie sorgte der luxuriöse Lebensstil der Schirachs für Aufregung, wie ein Brief aus 1897 zeigt: »Madame Filou, wie Hermann7 sie nennt – ihr Familienname ist Middleton Tillou –, hat dann auch keinen günstigen Eindruck hinterlassen, obschon sie ganz in duftigem Sommerkostüm, mit feinen Spitzen gekleidet und grande dame, comme il faut, war. Na Karl ist auch nicht besser und unter Herzögen, Prinzen, Grafen und Baronen thut ers schon nicht mehr, was seinen Umgang betrifft. Sport, Rennen und kostspielige Pferde ist außerdem so ziemlich Alles, wofür er Sinn hat, und obschon er ein schönes Vermögen hat, an 200.000 Dollar, wird er damit bald genug fertig werden.«8

      Die Großeltern väterlicherseits: US-Bürgerkriegsveteran Karl Friedrich von Schirach, der Held vom Bull Run, und Elizabeth Baily von Schirach, geborene Norris.

      Mutter Emma Middleton Lynah Tillou, genannt »Nam-Nam«, stammte aus der bedeutendsten Familien South Carolinas. 1944 kommt sie bei einem Luftangriff auf Wiesbaden auf tragische Weise ums Leben.

      Baldur von Schirachs Vater Carl Baily trat nach dem Abitur in Lübeck als Offizier in das Regiment der Gardes du Corps No.1 ein, dessen Chef Kaiser und König Wilhelm II. war. Bei einem Besuch bei Verwandten in den USA lernte er seine spätere Ehefrau Emma Middleton Lynah Tillou kennen, die er 1896 in Chestnut Hill heiratete.

      Sie stammte mütterlicherseits aus einer der reichsten Südstaatenfamilien, die im Besitz zahlreicher Plantagen war. Emmas Urgroßvater Henry Middleton (1717–1784) beispielsweise besaß zwanzig Plantagen auf rund 200 Quadratkilometern und ungefähr 800 Sklavinnen und Sklaven. Er war ein erfolgreicher Baumwoll- und Reispflanzer, der etwa 1770 83 Millionen Pfund Reis exportierte9), aber auch ein engagierter Politiker. Middleton bekleidete zahlreiche Ämter und stieg schließlich zu einem der wichtigsten Männer der antibritischen Politik in den Kolonien auf. Er wurde als Vertreter South Carolinas in den First Continental Congress gewählt, den er 1774/75 als Präsident leitete.

      Henrys erstgeborener Sohn Arthur Middleton (1742–1787), der wie sein Vater dem ersten Continental Congress angehörte, erbte von seiner Mutter Mary Williams das Anwesen »Middleton Place« und unterzeichnete 1776 mit anderen Delegierten aus South Carolina im Kongress die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Während des Unabhängigkeitskrieges geriet er für einige Zeit in britische Gefangenschaft.

      Henry Middleton, den man auch mit dem Beinamen Colonial Gentleman bedachte, ließ durch Sklavenarbeit ab 1741 in einer Biegung des Ashley Rivers, zwölf Meilen stromaufwärts von Charleston, eine beeindruckende Gartenanlage errichten, die heute zu den ältesten der USA zählt und Teil des National Heritage ist.10 Sein Enkel Henry Middleton (1770–1846) war von 1810 bis 1812 Gouverneur von South Carolina und amtierte von 1820 bis 1830 als US-Botschafter am Zarenhof in St. Petersburg.11

      1865, gegen Ende des Bürgerkriegs, wurden die Herrschaftsgebäude der Familie Middleton, die Gartenanlage und die Baumwollplantagen von General Shermans Unionstruppen zerstört und alle Sklaven befreit. Weitere Zerstörungen der Besitzungen brachte ein Erdbeben 1886. Ein Flügel des dreistöckigen Haupthauses blieb erhalten und dient heute als Museum.

      Ganz im Sinne dieser Familientraditionen führte Carl von Schirach in Weimar ein herrschaftliches Haus mit Wirtschafterin, Köchin, einem »Silberdiener« und weiteren Bediensteten.12 Im Gegensatz dazu war Baldurs Großvater Friedrich Karl, in der Familie nur »Fritz« gerufen, ein eher spartanisch lebender ehemaliger Offizier, der unter dem Namen Frederick C(harles) von Schirach im Amerikanischen Bürgerkrieg aufseiten der Nordstaaten gekämpft hatte. In der zweiten Schlacht am Bull Run in Virginia war er am 29. August 1862 als First Lieutenant schwer verwundet worden und hatte nur durch eine Teilamputation des rechten Beins überlebt.13 Er hielt 1865 an der Bahre des ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Ehrenwache, wobei er alle Mühe hatte, Trauergäste abzuwehren, die versuchten, ein Stück des Leichentuches herauszuschneiden.14 Ein Jahr später trat er mit einem Bein aus Kork wieder in den aktiven Dienst, 1867 wurde er für seine Verdienste – for gallant and meritorious services during the war – zum Captain ernannt, 1870 ging er in Pension, 1904 erfolgte die Ernennung zum Major Retired U. S. Army. Der Kriegsheld der Nordstaaten, der zeitlebens amerikanischer Staatsbürger blieb, heiratete 1869 in der St. Paul Church von Chestnut Hill Elizabeth Baily Norris, die Tochter des erfolgreichen Eisenbahnpioniers Richard Norris, der mit seiner legendären Lokomotive »George Washington« berühmt geworden war. Im Februar 1871 kehrte Karl Friedrich von Schirach mit seiner Familie nach Deutschland zurück, seine Frau Elizabeth verstarb bereits 1873, kurz nach der Geburt von Sohn Carl, in Wiesbaden.

      In seiner autobiografischen Skizze von 1940 beschreibt Baldur von Schirach seine Kindheit und Jugend in Weimar nur ganz knapp, in seiner Verteidigungsstrategie vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 sollte diese Zeit jedoch eine zentrale Rolle spielen. Die erfahrenen ideologischen Einflüsse deutete er allerdings völlig um.

      Um zu verstehen, warum er so früh aktiv die Nähe zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus suchte, ist es notwendig, vor allem die Widersprüche in seinen Darstellungen und Erinnerungen genauer in den Blick zu nehmen. Sie zeigen, dass die ideologischen Prägungen bereits vor dem persönlichen Treffen mit Adolf Hitler 1925 in der Persönlichkeit des heranwachsenden Gymnasiasten verankert waren. Daher wird im Folgenden sein persönliches Umfeld in Weimar genauer betrachtet.

      Mächtiger Großgrundbesitzer und einflussreicher Politiker: Henry Middleton bestimmte die Geschicke South Carolinas mit. Ölgemälde von Benjamin West, um 1771.

      Einer der Gründerväter

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