Identität im Zwielicht. Jörg Scheller
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Copyright © Claudius Verlag, München 2021
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Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
Layout: Mario Moths, Marl
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021
ISBN 978-3-532-60088-7
INHALT
1. Prolog. Eine Selbstbeobachtung
2. Anliegen des Essays: Wut zur Differenzierung
3. Thinking Identity Politics. Theorien, Ideen, Diskurse
4. Doing Identity Politics. Die Praxis der Identitätspolitik in der Medienöffentlichkeit
5. Wider die Wolkenphobie: Keine Identifikation ohne Imagination
„Was ist Identität? In Mathe ist das Äquivalenz der Werte unabhängig von den Variablen. Und im Leben? Ach, im Leben! Mein Gott, so viele Variablen, so viele zusammengeflochtene Wurzeln, die sich durchdringen und unter den Füßen wie Wolken zusammenballen.“
Adam Wodnicki1
„Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab.“
Mithu Sanyal2
„Das Unsichtbare existiert, ich habe es nicht gesehen.“
John Kimble
„I believe the definition of definition is reinvention.“
Henry Rollins
„You cannot be just one colour. If the bloody thing is ever gonna work out properly, then we all have to intermarry and screw each other blind and get to be coffeeish. But then we’d still find people looking whiter than those guys, right?“
Lemmy Kilmister
„Ist der intensivste Moment im Theater dann erreicht, wenn die Schauspielerin auf der Bühne nicht mehr von ihrer oe_mt2 zu unterscheiden ist, weil sie im Grunde sich selbst spielt? Die Witwe wird von einer verwitweten Darstellerin gespielt, die Kinderreiche von einer kinderreichen, usw. – ist das unser Ideal: möglichst keine Differenz wahrzunehmen, auch nicht außerhalb der Performance?“
Olga Radetzkaja3
1.Prolog. Eine Selbstbeobachtung
Im Juni 2019 schaute ich auf YouTube die Musikvideos zu Bruce Springsteens neuem Album Western Stars an. Mich selbst beim Betrachten betrachtend und mir selbst beim Hören zuhörend, stellte ich nach einer Weile fest, dass ich eigentlich keine Klänge hörte und eigentlich keine Bilder betrachtete. Dass sie mich nicht berührten. Meine Aufmerksamkeit hatte sich sofort auf etwas anderes gerichtet: Warum sind in den Videos keine Afroamerikaner zu sehen? Warum tauchen kaum Frauen auf? Warum verharrt die Musik in der Tradition westlicher Rock- und Popmusik? Warum wird nur ein kleiner Ausschnitt der Lebensrealität in den Vereinigten Staaten von Amerika gezeigt? Ist das noch zeitgemäß?
Ähnlich erging es mir, als ich Clips der in Trinidad und Tobago geborenen R&B-Sängerin Nicki Minaj und des norwegischen Black-Metal-Projekts Gaahls Wyrd anschaute. Noch bevor mich ein Beat gepackt, eine Akkordfolge ergriffen oder ein Sound fasziniert hatte, identifizierte ich Hautfarben, Geschlechter, sexuelle Orientierungen, Herkünfte, mögliche politische Einstellungen. Melodien und Rhythmen folgten als Nachhut eines soziologischen Heeres.
Meine Wahrnehmung hatte sich in einen Scanner verwandelt, der minutiös Merkmale erfasste und meinem Hirn wie auf einer Quittung präsentierte. Früher hatte meine Wahrnehmung eher einem Nebelscheinwerfer geglichen, der schemenhafte Gebilde sichtbar machte, wie sie aus ihrer Umgebung auftauchten, wieder in sie eintauchten, ineinander übergingen. Und als ich diese Sätze schrieb, da schaute ich mir selbst über die Schulter und flüsterte mir einen Verdacht ins Ohr: Hast du einen heterosexuellen weißen Amerikaner, eine queere migrantische Frau und einen homosexuellen Skandinavier für den Prolog gewählt, um Diversity zu signalisieren? Bist du vielleicht einer von jenen, die aus Marktkalkül auf Vielfalt setzen? Ein Karrierist, ein Opportunist, ein Trittbrettfahrer, ein „Tokenizer“, der andere als Alibi instrumentalisiert?
Wenn ich Artikel verfasste, war ich in den letzten Jahren immer häufiger versucht, sie mit Verweisen auf meine Lebensgeschichte, mein Geschlecht, meinen Beruf, meinen Wohnort oder mein Alter beginnen zu lassen: „Ich als Mann finde, dass …“, „Für einen Kunsthistoriker wie mich ist es …“, „Wenn man wie ich …“, „Ich bin nun 41 Jahre alt und …“ Etwas in mir mahnte, eine Argumentation sei nur dann legitim, wenn ich, wie bei den Inhaltsstoffen eines Nahrungsmittels, deklarierte, aus welchen biografischen Stoffen sie bestand. Bereits meine Doktorarbeit über Arnold Schwarzenegger (2011) hatte mit dem Satz begonnen: „Indirekt ist diese Dissertation einer Wirbelsäulenschwäche geschuldet“ – ohne den Rat eines Physiotherapeuten, im Fitnesscenter meine Rückenmuskulatur aufzubauen, hätte ich als Teenager vielleicht nie zum Bodybuilding und damit nicht zu einem meiner späteren Forschungsgebiete gefunden. Ist somit nicht schlichtweg alles autobiografisch bedingt?
Mitunter ertappte ich mich dabei, wie ich mir dachte, dass sich meine Biografie und meine Lebensweise ganz gut für mein öffentliches Image instrumentalisieren ließen: „Du führst seit Jahrzehnten eine transnationale Paarbeziehung! Und was, wenn nicht dein Lebensstil zwischen Universität und Fitnesscenter, Heavy Metal und Biedermeier, West- und Osteuropa könnte von ‚Diversity‘ zeugen? In deiner Familie gibt es Geschichten von Flucht und Marginalisierung! Du bist Migrant, wenn auch kein prekärer, wirst gefragt, wo du ‚eigentlich‘ herkommst – mache was draus, exponiere diese Aspekte deines Lebens, du kannst davon nur profitieren!“ Und selbst wenn ich diese Instrumentalisierung ablehnte – hätte ich mich ihrer mit den eben formulierten Sätzen nicht doch schuldig gemacht, nur eben auf indirekte Weise?