Identität im Zwielicht. Jörg Scheller
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Die Aufforderung sich zu mäßigen an einen abgedrifteten Neonazi zu richten, ist natürlich vergeblich. Das ändert nichts daran, dass Mäßigung und Differenzierung die Bedingungen der Möglichkeit im Kampf gegen alles Extremistische, Autoritäre, Totalitäre, Fundamentalistische, Grausame bleiben. Gibt man diesen Anspruch auf, dann ist klar, wer die besten Chancen hat, die Culture Wars des 21. Jahrhunderts zu gewinnen – Vereinfacher, Populisten, Aufwiegler, Schwarzweißmaler, Selbstgerechte. Anstatt also Mäßigung und Differenzierung für obsolet zu erklären oder in Tweets zu bespötteln, gälte es im Gegenteil, Mäßigung und Differenzierung zu intensivieren, ja, paradoxerweise, zu radikalisieren. Ausgerechnet der altgediente Populist Arnold Schwarzenegger, der im hohen Alter unerwartete Mäßigungs-und Differenzierungskompetenzen ausgebildet hat, sagte im Jahr 2017: „Die einzige Möglichkeit, die lauten, wütenden Stimmen des Hasses zu schlagen, besteht darin, ihnen mit lauteren, vernünftigeren Stimmen zu begegnen.“24
Im Folgenden werde ich, nach einem Abriss über die Kernanliegen der linksprogressiven Identitätspolitik, zwischen Thinking Identity Politics (Theorie der Identitätspolitik) und Doing Identity Politics (Praxis der Identitätspolitik) differenzieren. „Thinking Identity Politics“ verweist auf Theorien, Konzepte und Diskurse, die grob gesagt seit den 1960er-Jahren entstanden sind. „Doing Identity Politics“ verweist auf die identitätspolitische Praxis, insbesondere auf die Performanz und die Pragmatik in der Medienöffentlichkeit: Wie werden die Theorien von wem, wann und in welchen Kontexten konkret umgesetzt?
Die Kapitelbenennungen sind nicht trennscharf, da ich etwa in „Doing Identity Politics“ noch einmal näher auf die zuvor nur angerissene Theorie der Intersektionalität eingehen werde. So zeigt sich schon am Beispiel der Kapitelbenennungen, dass Identifizieren keine leichte Aufgabe ist. Was gehört wohin? Was muss wo stehen? Die eine oder andere argumentative Volte, die eine oder andere Abschweifung, das eine oder andere Ungefügige habe ich im Manuskript belassen. Es schien mir die Unmöglichkeit eindeutiger, linearer Identifizierungen wie auch unsere realen, mal kreisenden, mal mäandrierenden, mal sprunghaften Denkbewegungen zu veranschaulichen.
Des Weiteren werde ich zwischen einem deskriptiv-analytischen und einem präskriptiv-ideologischen Gebrauch der Identitätspolitik unterscheiden. Identitätspolitik kann dazu dienen, Verhältnisse zu beschreiben und zu analysieren. In diesem Fall untersucht sie, wie Menschen ihre eigenen Identitäten und die von anderen konstruieren; wie ihre äußeren Lebensbedingungen ihre Identitäten prägen; wie sich diese mal frei gewählten, mal aufgezwungenen Identitäten politisch artikulieren und welche kulturellen Äußerungen damit einhergehen. Ein solches identitätspolitisches Verfahren schafft Grundlagen für seriöse Theoriebildung, zivilgesellschaftliches Engagement und politische Entscheidungsfindungen. Genau genommen handelt es sich nicht um Identitätspolitik, sondern um Identitätsanalyse.
Identitätspolitik kann aber auch dazu dienen, Menschen eine Identität zu- oder vorzuschreiben und sie mit einer Gruppe gleichzusetzen. Der Soziologe Alvin W. Gouldner untersuchte schon in den 1950er-Jahren, wie soziale Identitäten „zugeordnet“ (assigned), diesen bestimmte Charaktereigenschaften „zugewiesen“ (imputed) und Menschen auf Basis „kulturell bestimmter (prescribed) Kategorien“ „klassifiziert“ (classified) werden.25 Das bedeutet: Weil du diese oder jene Eigenschaft hast, etwa die Hautfarbe schwarz oder das Geschlecht männlich, kannst du kaum anders als so und so zu sein. Was immer du tust – durch dich spricht nicht nur die Struktur, in der du lebst, du bist die Struktur!
Ein solches Vorgehen ist einerseits überaus heikel – Stichwort Sippenhaft –, andererseits kann keine Gesellschaft ohne soziale Zuweisungen und damit verbundene Erwartungen, Rechte und Pflichten existieren. Identitätskategorien sind notwendig für Orientierung in der Welt. Genau deshalb dürfen sie nicht zur Welt werden. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich beschreibend feststelle: Viele ältere weiße Männer wählen die AfD. Oder ob ich insinuiere: Sie sind ein alter weißer Mann und neigen deshalb vermutlich der AfD zu. Die erste Feststellung ist nüchtern und sachlich. Auf dieser Basis lässt sich konstruktiv analysieren: Wie kommt es, dass die AfD für soundsoviele ältere weiße Männer attraktiv ist? Dann beginnt die politische Arbeit.
Die zweite Feststellung ist eigentlich keine Feststellung, sondern eine identitäre Unterstellung. Sie wiederholt die Fehler früherer Generationen, die Einzelne reflexhaft in Gruppen einsortierten und ihnen Werte zuwiesen. Die Einzelfallprüfung erübrigte sich dadurch. Dass soundsoviele ältere weiße Männer die AfD wählen, sagt noch nichts über einzelne ältere weiße Männer aus, genauso wenig wie es etwas über einzelne jüngere weiße Frauen aussagt, dass viele jüngere weiße Frauen Shows von Heidi Klum anschauen. Zwischen der Geschichte eines weißen Soldaten der polnischen Heimatarmee, der im Zweiten Weltkrieg erst von Nationalsozialisten und dann von Kommunisten gejagt wurde, und der eines deutschen weißen Geschäftsmanns, der dem Nationalsozialismus anhing und von ihm profitierte, liegen Welten. Und wie konnte es eigentlich passieren, dass bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 ausgerechnet weiße männliche Wähler aus der Altersklasse Ü-60, darunter viele Rentner, den Durchmarsch der AfD verhinderten?26 Oder dass Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl 2020 unter weißen Männern an Zuspruch verlor, bei Frauen, Afroamerikanern und Lateinamerikanern hingegen Stimmen gewann?27
Die entscheidende Frage ist also, wie Identitäten zugeschrieben werden und wie mit ihnen umgegangen wird. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Interview mit dem britischen Künstlerpaar Gilbert & George in den Sinn, das ich 2020 in der Kunsthalle Zürich führte. Seit Jahrzehnten wohnen die beiden als offen homosexuell lebende, politisch jedoch konservative Künstler im multikulturellen Londoner Eastend. Multikulti sei nie ein Problem gewesen, sagten die beiden – „bis die Mullahs kamen“. Das bedeutet: Viele Menschen, egal woher sie kommen, haben ein eher pragmatisches, undogmatisches Verhältnis zu ihrer jeweiligen kulturellen, religiösen und/oder politischen Identität. In der Lebenspraxis begrenzen sie die Geltungsansprüche ihrer Kultur, Religion oder politischen Haltung aus freien Stücken, solange andere das auch tun. Weder versuchten Gilbert & George ihre Stadtteilmitbewohner von den Segnungen des Konservatismus oder der Homosexualität zu überzeugen, noch versuchten diese, Gilbert & George zur Heterosexualität, zum Islam, zum Hinduismus oder zum Buddhismus zu bekehren. Solange es sich so verhält, gelingt eine friedliche Pluralität der Identitäten. Schwingen sich jedoch Einzelfiguren oder Gruppen zu Anführern einer Kultur – verstanden als ein Kollektiv mit einer exklusiven Identität – auf, um diese vermittels dogmatischer Lehren zu repräsentieren, setzt sich die unheilvolle Spirale des identitären Kulturkampfs in Gang. Auch Theorien können dazu beitragen, wenn sie geschlossene Denkstile ausbilden und sich Kollektive um sie scharen: „Die Gemeinschaft der Theorie ist eine Glaubensgemeinschaft, die ausschließt, wer nicht an sie glaubt.“28
Das Problem sind somit nicht Identitäten an und für sich, insofern diese meist flexible, wabernde, an den Rändern offene Gebilde sind. Das Problem ist ihre Kodifizierung, ihre dogmatische Verengung, ihre gewaltsame Theoretisierung und ihre Repräsentation durch machthungrige Narzissten, die Menschen nicht in ihrer lebendigen Einzigartigkeit begreifen, sondern als Figuren auf dem Schachbrett der Macht. Sie sehen in Menschen stets nur Repräsentanten und Repräsentationen einer Kultur, einer Identität, einer Religion, einer „Rasse“, einer Partei, einer Ideologie, und immer so weiter. Sie sehen nur Schatten, nie Sonnen. Dabei eliminieren sie nicht nur die faktische Vielfalt, die jeden einzelnen Menschen innerlich wie äußerlich kennzeichnet: „Jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“, schrieb Heinrich Heine. Sie