Alle meine Kleider. Hannelore Schlaffer

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Alle meine Kleider - Hannelore Schlaffer

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ich heraus, dass ich sonst nur Kittel trage. Sagt meine Schulfreundin beim Klassentreffen nach vierzig Jahren: »Du hast einen knackigen Hintern«, dann denke ich: O Gott, was meint die wohl zu meinem Vorderteil, über das sie schweigt. Schwärmt ein Philosoph in Tübingen: »Wie froh bin ich, wieder einmal in ihre aquamarinblauen Augen zu sehen«, dann weiß ich, dass ein homosexueller Mann einer Frau gegenüber stets übertreibt und dass ein Philosoph mit der Poesie nur ironisch umspringt. Also: das Kompliment – auch das taugt nicht als verlässlicher Spiegel! In jedem Kompliment entdecke ich nichts als den Hohn auf die Bitte: Seht mich an! Zu angemessenem Lob für das Ideal, dem man zustrebt, wäre höchstens ein Petrarca fähig, mit einem Canzoniere voller Anbetung:

       Ihr Lichter auserlesen:

       Euch selbst zu sehn zwar bleibt euch vorenthalten:

       Doch kehrt ihr euch zu mir, so könnt ihr lesen

       Im Spiegel eines andern euer Wesen.

       Wenn so vor euch zutage

       Die göttlich-unglaubliche Schönheit läge,

       Wie sie vor jenem liegt, den sie fast blendet:

       Die Freude überwöge

       Des Herzens Maß. (LXXI)

      ES war in Wien, etwa um 1970, in einem vornehmen und stimmungsvoll beleuchteten Restaurant. Da habe ich das Ideal erblickt, vor mir betrat es den Speisesaal. Eine junge Frau, schön auf jeden Fall, aber das war nicht wichtig, schlank; das war schon eher wichtig; in Seide gekleidet, das war sehr wichtig; elfenbeinfarben und lang das Gewand, das war der eigentliche Effekt. In solch melodiöser Farbe und weicher Stofflichkeit illuminierte die Gestalt das Lokal und stellte alles in den Schatten, was ihr folgte. Über dem Arm trug »das Ideal« – so hieß die Figur von nun an bei mir – einen Schal aus dem Stoff ihres Kleides. Den ließ sie über den Boden schleifen, eine Schleppe, die sie nachlässig trug – es war niederschmetternd.

      Kurz nach meinem Aufenthalt in Wien besuchte ich das Kloster Hirsau in der Nähe von Calw. In diesem war ein Kindergarten untergebracht. Als ich in einem meiner knöchellangen Glockenröcke, altrosa mit weißen Punkten – etwas naiv, wenn er nicht auch noch ein wenig durchsichtig gewesen wäre –, durch das kleine Pförtchen schritt, das Gebäude und Garten von der Straße trennte, riss, als er mich sah, ein kleiner Junge die Augen auf, machte einen Luftsprung und rief: »Ui! Da kommt eine moderne Dame!« Diesen Ausruf habe ich in Wien nicht getan, auch nicht gedacht, aber erlebt: Wien war vom Moment der Begegnung an nur noch Dame für mich: aristokratisch und modern, nonchalant und modisch, stolz und noch dazu wirklich. Wien war Adel und Elfenbein.

      Dieses Image stand Wien gut und hätte mich beglückt, wenn nur ich nicht gewesen wäre, dieses mir unbekannte Wesen, das sich selbst nicht sah und durch die Erscheinung zum Verschwinden gebracht worden war. Die zwei, ich und das »Ideal«, wir waren unvereinbar wie Schatten und Schimmer. Ich stand im Dunkel, die andere stand im Licht. Der soziale Unterschied ist unter Frauen ein ästhetischer; schon immer konnte eine Babette eine Marquise, eine Christiane eine Charlotte in den Schatten stellen. Ich gehörte in diesen Tagen in Wien ganz eindeutig zur ästhetischen Unterschicht.

      Dieses Erlebnis – eine Erfahrung war es nicht, sonst wäre sie ins Selbstbild einzuordnen gewesen –, dieses Erlebnis war nicht neu für mich; früher hatte es Carola geheißen: Die große Blonde mit den braunen Stiefeln, diesem lauten Schuhzeug, das in den sechziger Jahren eine Novität war und mir so herrisch in den Ohren klang und das Selbstbewusstsein zerhämmerte.

      Der Schrecken vor dem Auftritt der anderen Frau gehört zu den rites de passage des weiblichen Daseins. Ein Mädchen bewundert in früher Jugend, in der Pubertät viele Frauen; eine Zeitlang sind sie Stellvertreter des eigenen Ich. Diese Verehrten leben – meist – nur auf Papier oder Zelluloid. Erst wenn die Bewunderte ins Leben tritt, ist sie nicht mehr das Ich, das sich in ihr beschaut und genießt. Dann ist sie anders und wirklich die andere. Entweder wird sie Freundin und geliebt oder Konkurrentin und kaltes Licht. Dieses Licht ritzt alle Fehler, die man an sich fürchtet, als scharfe Linien ins Bewusstsein ein, so als gäbe es sie wirklich, und macht sie unauslöschlich. Es entsteht eine Art ästhetisches Schmerzgedächtnis, das von nun an Verletzungen wahrnimmt, wo keine sind. Den Mängelkatalog der Schönheit, der den Frauen von der Gesellschaft vorgehalten wird, zitieren sie von nun an manisch. Ich jedenfalls habe kaum je eine Frau getroffen, die nicht über die Fehler in ihrem Aussehen klagte. Eine Gewissenserforschung, ob sie nun in der Religion oder in der Schönheitsreligion stattfindet, entdeckt immer nur den Sünder, nie den Engel.

      In Wien also hatte ich den Maßstab gefunden, an dem ich mich zu messen hatte; er war nun nicht mehr nur ein Bild auf Papier, er stand mitten im Raum. Auf keinen Fall ist man wie die andere, also ist man, so die pessimistische Logik der Selbsterkenntnis, da jene makellos, nichts als missraten. Immer und immer wieder geht man nun sein ästhetisches Sündenregister durch und findet keine einzige Verfehlung, die die Natur an einem Körper begehen kann, von der man loszusprechen wäre.

      Bis das »Ideal« wirklich zur Konkurrentin wird, ist es ein weiter Weg. Er führt vom Bild zum Vorbild, vom reinen Anschauen, fast möchte ich sagen: Angaffen, zum Nachmachen und schließlich zur Konkurrenz und Abgrenzung. Es ist der Weg vom Schwarm zur Rivalin. Das Wissen von der eigenen Weiblichkeit, die Erfahrung dessen, was man in der Gesellschaft zu sein hat, die Einsicht in das, was die fünf Brüder einst meinten, wenn sie sagten: »Des ist mei’ Schwesterle« und mich »Mädle« riefen, erfuhr ich freilich zunächst nicht ästhetisch, sondern haptisch und symbiotisch durch die Mutter. Eine Mutter wird nie Bild und kann nie Vorbild werden für ihr Kind. Sie ist zu wenig Anschauung und zu viel Dasein, zu wenig Kleid und zu viel Körper. In ihm haust das Kind, auch wenn es neben ihm sitzt. Die blauen Augen sind nicht schön, in ihnen sonnt es sich, auch wenn sie einmal an ihm vorbeisehen.

      Erst, wenn man nach außen und über die Familie hinausdenkt, begreift man sich als Mädchen. Als Familienmitglied ist man da und handelt. In der Welt draußen entdeckt man Wesen, die fremd sind, an ihnen erkennt man Gestalt und Kontur, die der anderen und die seiner selbst. In der Familie ist alles Charakter, in der Welt – zunächst – alles Gestalt.

      Erst die fremde weibliche Gestalt liefert eine Anschauung zum Begriff Frau, der die gesellschaftliche Rolle erfasst: Die Frau ist keine Mutter mehr, ist nicht Fleisch, sondern Kleid, Haar, Gang, Stil, persönliche Note. Von der Mutter wird man gekleidet, die fremde Frau regt dazu an, sich selbst zu kleiden. Das Sehen der andern ist der Eintritt des Mädchens ins gesellschaftliche Dasein. Von nun an ist es nicht mehr Kind, von nun an spielt es eine Rolle.

      Den ersten Schritt auf diesem Weg tat ich, als ich in der »Ebertsklinge«, einer Schlucht in der Nähe unserer Würzburger Wohnung, den Berg zum Main hinunterlief – Sportlerin, die ich war, begann ich mein Training in dieser Klinge mit einer Art Jogging avant la lettre – und wusste, dass hier ein Mädchen wohnte, so alt wie ich, mit schönem schwarzem Haar. Schön, schwarz, nichts sonst, so sagte jeder Laufschritt, und dann verdämmerte, schon während des Laufens, dies Bild. – Oder vielleicht doch nicht? Habe ich nicht später meine Haare schwarz gefärbt? Trotzdem war dies Mädchen kein Vorbild, es war ein Märchen, eine Imagination wie alle erzählten Figuren, die auftauchen und schon wieder verschwunden sind.

      Kaiserin Elisabeth, keinesfalls aber Sissi, sie war es, die mir eindrucksvoll und unvergesslich als erste gezeigt hat, was eine Frau sei, eine Frau in der Welt, eine Frau von Welt. Nie hätte ich als die Schwimmerin mit dem kurzgeschnittenen Rattenkopf, der an den eines Sträflings erinnerte, mich mit dieser Majestät verglichen, in deren Haarpracht die Sterne funkelten.

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