Das Wiedersehen. Adrian Plass
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In dieser Woche verbrachte ich jeden Tag einige Zeit oben am See. Manchmal saß ich nur da und manchmal ging ich spazieren; manchmal lehnte ich mich einfach nur unglücklich gegen einen Baum, aber immer brannte in mir die jämmerliche Hoffnung, wenn ich nur nicht in meinem Flehen nachließe, würde Jessica vielleicht doch zu mir kommen und sich von mir umarmen und noch ein letztes Mal küssen lassen. Am Ende der Woche war der Wahnsinn, falls es das war, vorüber. Ich ging nicht mehr an den See. Ich wusste - natürlich hatte ich es immer gewusst -, dass ich Jessica dort nicht begegnen würde. Doch als ich zum letzten Mal von dort aufbrach, war mir, als ließe ich sie dort an jenem melancholischen Ort zurück. Eine Woche oder länger gab es etwas in mir, das den Wahnsinn vermisste. Immerhin war so etwas wie Hoffnung darin gewesen, so töricht und irrational sie auch gewesen sein mochte. Nun war selbst diese törichte Hoffnung dahin, und übrig blieben nur die Sehnsucht und der Zorn, der heiß in meinem Herzen brannte.
Als ich sechs Monate später mit Angelas Brief in der Hand wieder auf das Gelände von Grafton House zurückkehrte, war das ein ganz anderes Erlebnis. Das Wetter zum Beispiel. Damals nach Jessicas Tod war die ganze Woche über trübes Wetter gewesen. Die Morgensonne ist so freundlich zu allem, was sie berührt, und Wasser findet Licht natürlich besonders unwiderstehlich. Das Gelände war so vernachlässigt wie eh und je, aber der See zeigte mir sein bestes Gesicht und erwiderte fröhlich das Strahlen seiner Wohltäterin.
Trotzdem stellte ich fest, dass es mir nicht gefiel, dort zu sein. Ich wünschte mir, ich wäre nicht gekommen. Es hatte mir Spaß gemacht, wieder einmal Rad zu fahren. Das war schlimm genug. Als ich dann die baufällige Brücke zur Insel überquerte, zermarterte ich mir den Kopf über den Ursprung eines vertrauten Gefühls der Nervosität und Aufregung, von dem mir fast ein bisschen übel wurde. Als ich mich auf die rostige alte Bank vor den Rhododendron setzte, fiel mir plötzlich wieder ein, was das für ein Gefühl war. Natürlich, so hatte ich mich vor vielen Jahren vor einer Verabredung mit einem Mädchen gefühlt. Mit einem oder zwei anderen Mädchen vor Jessica, und dann etliche Male mit ihr. Offenbar erinnerte sich ein Teil meines Gehirns an mein einwöchiges hoffnungsloses Flehen hier am See so, als wäre es eine echte Begegnung mit meiner toten Frau gewesen, und rechnete damit, dass ich ihr auch jetzt begegnen würde. Aber das war nur ein Trick meines Unterbewusstseins. Ich würde Jessica nicht begegnen. Sie war nicht hier, jetzt genauso wenig wie damals. Traurig spähte ich über den See hinweg hinüber zu Noras Trauerweide. Heute würde verdammt viel mehr als ein Aufblitzen von Karmesinrot notwendig sein, damit ich wieder rund um den See raste. Was wohl aus dieser verängstigten kleinen Frau geworden war? Hatte sie einen Gott gefunden, der ihr zulächelte? Ich hoffte es.
Angelas Brief.
Ich nahm die zerknitterten Blätter aus meiner Hosentasche, strich sie glatt und las das Ganze ein weiteres Mal durch. Was sollte ich tun? Was wollte ich? Wollte ich wirklich zu so einem seltsamen alten Spukhaus fahren, um Leute wiederzusehen, an die ich mich wahrscheinlich sowieso nicht erinnerte, und es auf mich nehmen, dass sie mich mit Fragen löcherten und mir erzählten, wie Leid es ihnen tue, was passiert sei? Nein, das wollte ich eigentlich nicht. Wollte ich irgendeinen engeren Kontakt zum Leben anderer Menschen riskieren, der mich womöglich dazu zwingen würde, mich wieder zu öffnen und im Land der Lebenden aufzutauchen? Nein, das wollte ich nicht. Und würde es wahrscheinlich dazu kommen?
Als ich in diesem Moment zum blauweißen Himmel aufblickte, sah ich die unschuldigen Augen Gottes, der offenbar gerade in eine andere Richtung schaute. Ich stöhnte.
Also, ich würde nicht hinfahren. Ich würde einfach nicht hinfahren. Wütend schlug ich mit dem Umschlag auf mein Knie. Na schön, wenigstens mit dem Gedanken würde ich mich befassen.
Wollte ich Angela wiedersehen? Nun, ja, wahrscheinlich. Meine Erinnerungen an sie, der Tonfall ihres Briefes, ihre Freundschaft mit Jessica - ja, dachte ich, ich würde Angela wohl gerne wiedersehen, wenn auch am liebsten ohne einen Haufen anderer Leute dabei. Wollte ich herausfinden, was Jessica in jenen letzten Stunden vor ihrem Tod für mich ausgeheckt hatte? Nein.
Ja! Ja! Ja! Ja, ich wollte es wissen! Ja! Ich wollte diese Sache haben, die Jessica Angela für mich gegeben hatte. Es gehörte mir. Ich wollte es haben! Es stand mir zu! Also, ich würde Angela anrufen und entschlossen auftreten. Einfach verlangen, dass sie mir diese Sache übergab, was immer es war, ohne dieses alberne Getue mit dem Wiedersehenstreffen.
Ich blätterte den Brief durch, las noch einmal den letzten Abschnitt und überlegte, wie wenig ich über Angela und wie viel ich über Jessica wusste. Dann schüttelte ich den Kopf. Nein, nicht ich allein gegen diese beiden. Das würde nicht funktionieren.
Konnte ich überhaupt hinfahren, falls ich wollte? Ja, es ging schon. Was Angela offensichtlich nicht wusste, war, dass ich gleich nach Jessicas Tod alle meine Vortragstermine für den Rest des Jahres abgesagt hatte. Die Einladungen für das nächste Jahr stapelten sich zu Hause auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer, das ich nur selten betrat. Sollten sie sich stapeln, solange sie wollten. Dieses Leben hatte ich jetzt hinter mir. Irgendwann würde ich mir irgendeinen Job suchen müssen, sicher, aber im Moment hatte ich keine finanziellen Probleme. Wie die Ironie es wollte, hatte gerade Jessicas Verlust dafür gesorgt. Nein, Tatsache war, dass ich vermutlich mehr Zeit hatte als jeder andere, der zu einem solchen Wochenende kommen mochte. Keine Kinder. Würde auch nie welche haben. Keine Frau. Nie wieder. Frei.
„Scheiße!“
Trauer und Zorn schüttelten meinen Körper wie ein Krampf und höhlten meinen Magen aus. Zum Kuckuck mit allen! Ich würde nirgendwohin fahren. Sollte Angela das verdammte Ding doch behalten, was immer es war! Sollten sie doch ihr Wiedersehenstreffen machen und sich besaufen und sich alle gegenseitig vollkotzen! Viel Spaß dabei. Ich stierte über den See hinweg. Ich hatte mich geirrt. Ein kleines Aufblitzen von Rot und ich wäre wieder gerannt wie ein Berserker. Oh, Jessica!
Ich stand auf, stopfte den Brief in meine Tasche, kehrte dem See den Rücken, überquerte die Brücke und stapfte den Hang hinauf zum Haus. Mein Fahrrad hatte ich an den Drahtzaun eines mit Löwenzahn überwucherten, unebenen alten Tenniscourts gelehnt, noch so eine eigentlich vorzügliche Einrichtung, die durch Vernachlässigung zu Grunde gerichtet worden war.
„Allmählich fange ich an, diesen Ort zu hassen!“, murmelte ich vor mich hin.
Ich schwang mein Bein über den Sattel, stieß mich mit dem Fuß ab und rollte über den Parkplatz. Als ich die Auffahrt erreichte, die das Haus und das Gelände mit der Hauptstraße verband, beschleunigte ich, so schnell ich konnte. Ich stellte mich auf die Pedalen und stemmte mich mit aller Kraft hinein. Die Muskelanstrengung, die nötig war, um Tempo und Schwung zu gewinnen, war mit einem exquisiten, unvermeidlichen Genuss verbunden. Da die Strecke leicht abschüssig war, war ich schon nach einer halben Minute so schnell, dass das Fahrrad auseinander zu fliegen drohte. Mit gesenktem Kopf jagte ich den kurvenreichen Weg entlang, ohne auf irgendetwas zu achten außer der Luft, die mir um Kopf und Schultern strömte, und das Zischen der dünnen Rennreifen, die unablässig auf dem schwarzen Asphalt rotierten.
Mit meiner Geschwindigkeit hätte ich leicht in einer der engen Kurven mit etwas zusammenstoßen können. Mit einem Fußgänger vielleicht. Mit einem Auto. Oder mit einem anderen Radfahrer. „Vielleicht“, dachte ich mit einem schwindeligen Gefühl im Kopf, „rolle ich einfach weiter, wenn ich auf die Hauptstraße komme.“ Wenn ich einfach die Augen zumachte und in den fließenden Verkehr hineinradelte, dann war das vermutlich das Ende. Problem gelöst. Warum nicht? Als ich mich dem Tor der Einfahrt näherte, hatte ich immer noch volles Tempo. Direkt vor mir rollte der Verkehr mit hoher Geschwindigkeit in beiden Richtungen. So war es immer in diesem Abschnitt der Straße. Alles, was ich tun musste, war, die Augen zu schließen und weiter in die Pedalen zu treten.
Zentimeter vom Straßenrand entfernt kam