Rassismus und kulturelle Identität. Stuart Hall
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In einem seiner ersten Aufsätze zum Rassismus (›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante) diskutiert Hall die Verankerung rassistischer Strukturen am Beispiel Südafrikas. Er knüpft hier an Konzepte des französischen Marxisten Louis Althusser und seiner Schule eines strukturalistischen Marxismus2 an und bezieht deren Begriffe der Produktionsweise, der Gesellschaftsformation und der Artikulation auf die Debatten der siebziger Jahre um Entwicklung und Unterentwicklung. Damit kann Hall gegen die dominierende ökonomistische Tendenz das Weiterbestehen sogenannter vorkapitalistischer Produktionsweisen und gesellschaftlicher Organisationsformen unter Bedingungen eines mehr oder weniger entwickelten Kapitalismus denken. In der neueren Rassismusdebatte wird zwar das Verhältnis von Zentrum und Peripherie als konstitutiv für verschiedene Rassismen berührt, weitere Resultate der damaligen Forschungen bleiben jedoch heute unberücksichtigt. Hall übersetzt hier auch zwischen marxistischen und linksweberianischen Erklärungen des Verhältnisses von ›Rasse‹ und Klasse. Er betont die historische Spezifik rassistischer Stratifikationen und die analytische Notwendigkeit, von den materiellen Existenzbedingungen auszugehen, ohne dabei in den Ökonomismus zurückzufallen oder die Produktionsverhältnisse in eine Vielfalt heterogener Konflikte aufzulösen.
Auch der Beitrag des italienischen Marxisten und Theoretikers Antonio Gramsci für das Verständnis des Rassismus, den er in einem späteren Aufsatz weiter ausgeführt hat (1986a, dt. in 1989a), wird hier erstmals skizziert: mit seinem Begriff der Hegemonie könne gleichzeitig die Gesellschaft als einheitlicher Wirkungszusammenhang begriffen und die Nichtreduzierbarkeit politischer und ideologischer Auseinandersetzungen auf ökonomische Strukturen gedacht werden. Anders als im Funktionalismus, den Hall auch Althusser vorwirft, oder in verschiedenen systemtheoretischen Ansätzen, dürfe diese Einheit nicht immer schon vorausgesetzt, sondern müsse als eine Aufgabe begriffen werden, diese erst ökonomisch, ideologisch und politisch herzustellen. Während etwa zur gleichen Zeit die Regulationstheoretiker in Frankreich beginnen, diese Frage an ökonomischen Problemen zu untersuchen, nimmt Hall dieselbe Problemstellung zum Ausgangspunkt für seine Studien über die diskursive Konstruktionsweise und Bedeutung kultureller Identität.
Auch bei diesen Analysen am Beispiel kultureller Praktiken wie Film, Musik, Fotografie und Stil, auf die in den meisten Texten Bezug genommen wird, bildet Althusser mit seinem Beitrag zur Ideologietheorie einen Ausgangspunkt. Der Begriff des Subjekts, das sich erst durch die Anrufung einer ideologischen Macht als handlungsfähiges konstituiert und gleichzeitig einer ideologischen Struktur unterwirft, mit der es sich identifiziert, ist für Halls Überlegungen zentral: Praxis findet immer als Praxis von Subjekten statt, d. h. unter einer Ideologie und damit partiell im Medium des Imaginären (Althusser 1977).
Hall entwickelt dieses Konzept weiter, indem er die Techniken der Identifikation und ihre Kombination aufzeigt, durch die sich das empirische Subjekt der ideologischen Struktur, dem universalen Subjekt, unterwirft. In diesem Prozess spielt Repräsentation eine entscheidende Rolle, die nicht mehr als nachträgliche Vor- oder Darstellung außersprachlicher Sachverhalte, sondern als ihre Konstitution im Modus der Bedeutung selbst begriffen werden muss. Analog zu den Wahrheitsregimes, die bei Foucault als institutionelle Arrangements die Entscheidung darüber präformieren, was unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen als wahr zu gelten hat und was nicht (…), arbeitet Hall mit dem Begriff des Repräsentationsregimes, das zulässige Formen der kulturellen Sinnproduktion von ausgegrenzten und verdrängten unterscheidet. Die Kämpfe marginalisierter Akteure, um die es Hall geht, werden daraufhin untersucht, wie sie in die herrschenden Repräsentationsregimes intervenieren.
Den engen Zusammenhang zwischen Rassismus und seinem Konzept kultureller Identität zeigt Hall am Beispiel schwarzer Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre, die die negative Symbolik der Farbe Schwarz umkehrten und zur Quelle eines neuen Selbstbewusstseins machten. Das Afrika der ›Wurzeln‹ wurde zum symbolischen Ort einer neuen Identität, die die Aufarbeitung der Geschichte von Verschleppung, Sklaverei und Unterdrückung aus einer eigenen Perspektive überhaupt erst möglich machte. Auch wenn diese Gegenidentifikation dem herrschenden Repräsentationsregime noch in der Umkehrung verhaftet bleibt, gegen das wesenhaft weiße Subjekt der Herrschaft ein wesenhaft schwarzes setzte, sieht Hall in ihr so lange einen unverzichtbaren Ausgangspunkt schwarzer Identitätspolitik, wie diese mit rassistischen Strukturen der Ausschließung und Marginalisierung konfrontiert sind. Im Gegensatz zu Taguieff, der in Césaires Négritude und Fanons Rebellion der ›Verdammten dieser Erde‹ nur einen schwarzen Gegenrassismus sehen konnte (1991, 239–41), begreift Hall auch diese Formen noch in ihrem historischen Zusammenhang. Deshalb nimmt er überall dort, wo es um die schwarze Erfahrung geht, emphatisch auf Fanon Bezug, der wie er aus der Karibik stammt, aber in der französischen Metropole und als Unterstützer des algerischen Unabhängigkeitskrieges einen anderen Weg einschlug.
Halls entscheidende Intervention ist also, dass der Begriff der kulturellen Identität ebenso wenig wie der der Ethnizität aufgegeben werden muss, um den Kampf für umfassende individuelle und gesellschaftliche Emanzipation führen zu können. Im Gegenteil: ein solcher Kampf zwingt jede/n Akteur/in dazu, einen Standpunkt zu beziehen, den Ort zu bestimmen, von dem aus er/sie spricht, d. h. sich zu positionieren. Bei diesem Akt des Positionierens bleiben die Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sprachlichen und kulturellen Codes, über die er/sie verfügt, unverzichtbare Ressourcen: Elemente der Ethnizität.
Dennoch kann kulturelle Identität – spätestens seit der Zäsur von 1968 und dem Aufstieg neuer sozialer Bewegungen, in denen die Strategien der Identifikation selbst zum ersten Mal und über die traditionellen Grenzen des politischen Raums hinaus zum Gegenstand der Politik wurden – nicht mehr als Bewahrung eines Wesens oder einer ursprünglichen Essenz gedacht werden. Sie muss in den Kontext eines neuen Globalisierungsschubs des Weltkapitalismus gestellt werden, durch den Interdependenz und Zeit-Raum-Verdichtung ausgeweitet wurden und – für die hier behandelten Fragen zentral – die internationale Migration eine neue Qualität erlangte. Hall sieht diesen Umbruch im Zusammenhang mit dem Ende des fordistischen Akkumulationsregimes (vgl. z. B. das Manifesto for New Times, Hall 1989e). Die Bindekraft ›absolutistischer‹ Anrufungen durch ›große‹ kollektive Subjekte wie Nation oder Klasse lässt nach, das individuelle Subjekt wird ›fragmentiert‹ und ›zerstreut‹ (dislocated). Hall weiß allerdings, dass diese Erfahrung von Anfang an auch zur Moderne gehört und dass die Erzählungen des (männlichen, weißen, englischen) ›großen Subjekts‹ nie völlig beherrschend waren. Deswegen spricht er zumeist von ›Spät‹- statt von ›Postmoderne‹. Er zeigt, wie Theoretiker der Postmoderne an ihre Vorläufer anknüpfen, die bereits mitten in der Moderne mit der Dezentrierung des Subjekts begannen: Althusser verweist auf Marx, Lacan auf Freud, Derrida auf Saussure; zu einer Zeit, als die Disziplinen der Ökonomie und des Rechts noch fraglos