Totensteige. Christine Lehmann
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Die Uhr im Fachwerkgiebel unterm Dachfirst stand auf drei nach acht, obgleich es gerade fünf nach zwölf war. Das fiel mir auf.
»Habt ihr nicht vielleicht doch einen Generalschlüssel? Oder soll ich die Tür eintreten? Andernfalls muss der Schlüsseldienst her, und zwar zügig.«
Desirée wurde plötzlich fahrig. »Ich weiß nicht … da muss ich die Frau Doktor fragen.«
»Denk nach, Sonnenscheinchen. Eine Schließanlage wie diese hat einen Generalschlüssel!«
Desirée zog krachend Schreibtischschubladen auf und wühlte. Das beste Versteck ist Unordnung.
Ich setzte mich inzwischen auf den Besucherstuhl und zog meine nassen Stiefel und Socken aus. Das Parkett war nagelneu und angenehm warm unter den Fußsohlen. Alle Wände waren weiß gestrichen, die Türen glänzten und spiegelten. Sonnenlicht ist der Feind des Gelichters.
»Ist er das?«, rief Desirée und hielt einen Schlüssel in die Höhe.
Ich schnappte ihn mir.
»Was haben Sie vor?«, rief Dr. Barzani, aus den Tiefen des Gangs herbeieilend. »Moment!«
Auch wenn die Frau Autorität war – Doktorin, stellvertretende Leiterin eines Instituts, im Kopf ein Mann –, so war sie doch auch wieder nur das Geschöpf von Männern. Und Männer wollen hören, wenn Frauen kommen, am Klacken der Absätze, am Rascheln der Röcke, am nylonzarten Aneinanderreiben der Oberschenkel.
»Ich kann auch gleich die Polizei rufen.« Bei Akademikern half, wie bei anderen Menschen auch, das Vorhalten von harten Alternativen.
Sie schwieg.
Der Schlüsselschlitz nahm den Schlüssel in Empfang wie eine gut geschmierte Möse. Das Schloss drehte sich widerstandslos. Allerdings ließ sich die Tür nicht mehr als eine Handbreit öffnen. Auf der anderen Seite bremsten Füße in Trekkingschuhen. Es roch nach Eisen. Nach Blut. Es hatte die ganze Zeit hier schon nach Blut gerochen, ich hatte es nur falsch interpretiert. Im Hinterstübchen schaltete ich auf Tatort um. Keine Spuren verwischen. Mit der Hand zog ich erneut mein Handy aus der Tasche und stellte das Display auf Spiegelmodus. Mit dem Arm kam ich gerade so durch den Türspalt.
»Was ist? Was machen Sie da?«, fragte Barzani hinter mir.
Im Spiegel sah ich die khakifarbenen Hosenbeine und … Ich musste ausschnaufen.
Der Tote sah aus, als wäre ein Raubtier beim Fressen gestört worden. Gedärm, Nieren, Leber und Magen matschten herum, aus dem Brustkorb ragten Knochen. Die Leibeshöhle klaffte. Mit dem Kopf lag er neben dem Radkranz des Schreibtischstuhls im Schatten des Tischs. Zuerst dachte ich, das Raubtier hätte auch seine Augen herausgerissen, dann erkannte ich, dass sie zugeklebt waren mit ockerfarbenen Vierecken, Stücken von Paketklebeband. Ein längeres Stück klebte über seinem Mund. Die Arme waren nach oben gerissen und schienen gefesselt. Ich zog meine Hand ein, um das Telefon auf Kamera umzustellen. Ich machte kleine, unauffällige Bewegungen, damit die Damen es nicht mitbekamen, und knipste fünf- oder sechsmal rasch in den Raum.
»Was ist?«, riefen Derya und Desirée mit sich überschlagenden Stimmen. »Was ist los? Ist was mit ihm?«
Desirée riss mich aus der Tür. »Lassen Sie mich durch! Ich muss …«
Ich hielt sie fest. »Lieber nicht! Wir müssen die Polizei verständigen.«
»Ist er tot?«, flüsterte Derya Barzani.
4
Den Nachmittag verbrachte ich bei Karin Becker im feuerfesten Archiv des Stuttgarter Anzeigers. Becker hatte Wikipedia und Konsorten gegenüber den Vorteil, dass sie für mich vorauswählte. Ich konnte im Keller des Pressehauses an dem grauen Tisch mit den Bildschirmen im Geviert der Hängeregisterschränke und Regale die Füße ausstrecken und mich doof stellen, während sie die Wunder der Stichwortsuche und ihrer symbiotischen Kenntnisse des Archivs vor mir ausbreitete.
»Ich habe mal die spektakulärsten Fälle der letzten fünfzig Jahre herausgesucht«, sagte sie, »Nina Kulagina, der Rosenheim-Spuk, Uri Geller. Warum müssen die Medien eigentlich immer über dieselben Fälle berichten? Wird das nicht langweilig?«
»Das sehen Sie falsch, Frau Becker. Sex ist auch immer dasselbe, aber es ist nie langweilig!«
Beckers Braue zuckte. Sie lebte mit einer männlichen Katze und drei Tageszeitungen in einer Wohnung in der Elfenstraße in Möhringen mit Blick auf den Riedsee und schaute auf eine leidenschaftliche Jugend zurück, über die sie Stillschweigen bewahrte.
»Woher der Begriff kommt, wissen Sie?« Sie schaute mir kurz in die Augen. »Para bedeutet auf Griechisch neben.«
»Eine Nebenseelenwissenschaft also. Haben Gespenster eine Psyche?«
»Erstens geht es in der Parapsychologie nicht nur um Gespenster, sondern um Hellsehen, Wahrsagen, um Fernwirkungen wie Telekinese und Telepathie, um alles, was so aussieht, als wirkten Kräfte, die nicht direkt physikalisch erklärbar sind. Und zweitens sind naturgemäß alle diese Erscheinungen an Menschen gekoppelt, die davon berichten, weil sie sie wahrgenommen haben.«
»Also Einbildung.«
»Vielleicht.« Becker legte mir den ersten Packen hin, Papier und eine DVD. »Der Fall Nina Kulagina. Sie war im Krieg in Leningrad Funktechnikerin in einem Panzer, bekam Kinder und wurde in den Sechzigern mit telekinetischen Fähigkeiten bekannt. Nur einem einzigen westlichen Parapsychologen ist es 1970 gelungen, sie zu besuchen und zu filmen.«
Die Schwarzweißaufnahmen, die Becker mir am Computer vorführte, zeigten eine frisierte Hausmutter an einem Tisch mit einem Häufchen Streichhölzer und einem Salzstreuer. Sie ließ die Hände intensiv, konzentriert, beschwörend über den Gegenständen kreisen, und die ruckten dann auf sie zu. Auch einen Kompass brachte sie zum Kreiseln.
»Mit Magneten an der Hand oder auf dem Knie unterm Tisch eine durchaus lösbare Aufgabe«, bemerkte ich.
»Hat man ihr aber nicht nachweisen können. Finley McPierson, der diese Filmaufnahmen gemacht hat, ist bei Zauberkünstlern in die Lehre gegangen. Er tritt sogar auf damit, bis heute. Er hat Kulagina allerdings nur durch die Tür filmen dürfen.«
»Finley McPierson?« Das war doch der, den Rosenfeld am Freitag vom Flughafen hätte abholen sollen. Als er den Kulagina-Film drehte, war er ein junger Mann mit wilden blonden Locken gewesen. Ein aktuelles Foto zeigte einen jetzt weißen Lockenkopf mit dicker Brille vor teichblauen Augen, hagerem Gesicht und bübischem Lachen.
»Er und Professor Dr. Gabriel Rosenfeld vom Institut für Parapsychologie in Holzgerlingen …« Sie schaute mich an.
»Rosenfeld ist tot«, sagte ich. »Seine Leiche wurde am Vormittag gefunden.«
Becker blickte mich scharf an. »Ah so, darum das Interesse.«
»Dieser McPierson, wer ist das?«
»Jahrgang 1949, geboren in Bombay, dem heutigen Mumbai, als Sohn von Diplomaten. Alte schottische Familie. Er hat in der ganzen Welt studiert, auch bei