Biografie eines adoptierten Lebens. Sabine Purfürst
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Aber ich wollte einen fremden Geschmack im Mund haben. Damals tauschte ich sogar meine Hausmacher Leberwurstbrote gegen welche mit gekaufter Wurst ein. Die schmeckten mir besser!
Von halb zehn bis zehn war die Hofpause, die große Pause. Wir stürmten die Treppe hinunter. Im Gedränge schupste man mich. Erst nachdem ich auf dem Schulhof angekommen war, spürte ich, dass mir Irene gefolgt war. Sie baute sich dicht hinter mir auf. Ihr Atem klebte in meinem Nacken. Das kannte ich. Oft genug ärgerte sie mich und andere Kinder. Sie legte sich nur mit Schwächeren an. Nie mit den Starken. Sie suchte sich die aus, die man ausgeschlossen hatte, jene, die stotterten, die allein in der Ecke standen oder die sonst durch irgendetwas Besonderes auffielen.
Ich selber war zwar klein, aber nicht kontaktarm. Ich wollte mit dabei sein, wenn die Mädchen und Jungen über den Pausenhof rannten, wenn sie auf dem Kopfsteinpflaster „Fangeles“ spielten, wenn sie sich hinter den Papierkörben oder Büschen versteckten. Aber ich durfte nicht mitspielen. „Dich lassen wir nicht mitspielen! Du Blöde! Du kannst nichts!“, rief mir ein Bengel, der drei Köpfe größer war als ich, zu. „Geh zu Mama! Hau ab! Verschwinde!“
Plötzlich mischte sich Irene ein, schupste mich, zog an meinen dünnen Zöpfen.
„Und überhaupt! Das sind ja gar nicht deine Eltern!“ Sie grinste mich an. „Ach! Geh nur heim! Hab dich nicht so! Stell dich nicht so an!“
Ihre dunklen kurzen Haare ließen das ohnehin runde Gesicht noch breiter wirken. Ihre Stupsnase zeigte leicht zur Seite. Ihre Stimme quäkte. Irene trug genauso altmodische Klamotten wie ich. Nur war sie wesentlich stabiler gebaut.
„Was fällt dir ein!“ Ich konnte sie nicht ausstehen! Wenn ihre Eltern mit ihr geschimpft hatten, musste sie das an uns auslassen. Sie gab ihre Wut an den Nächsten weiter. Das fand ich gemein. „Du bist blöd! Du alte Ziege!“, wehrte ich mich.
„Du bist aus dem Heim! Das weiß man doch! Mit Heimkindern spielt man nicht!“ Sie verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke. „Du hast nicht mal richtige Eltern! Die haben dich überhaupt nicht lieb!“
Ich suchte nach einer passenden Antwort, als sie weiter schrie: „Ätsch! Noch nicht mal Geschwister hast du!“
„Du doch auch nicht! Du blöde Kuh! Pf ...! Ich habe vielleicht mehr als du denkst! Das weißt du doch gar nicht!“, brüllte ich. Es sollten alle Kinder hören. So klein, wie ich war, aber schreien konnte ich.
Obwohl ein Fachlehrer zur Hofaufsicht neben uns stand, griff er nicht ein. Ich kämpfte mit den Tränen. Ich denke, dass die Lehrer Bescheid wussten. Nie sagten die was. Absolut nicht! Die waren wohl der Meinung: „Lass die in Ruhe! Das machen die unter sich aus!“
Als ich nach der Hofpause zur Handarbeitslehrerin ging, mich beschweren wollte, hieß es abweisend: „Alte Petze! Das macht man nicht! Wir wollen keine Petzen haben!“
Die Lehrerin war im mittleren Alter. Ich fand sie steinalt. Ich mochte die nicht.
Im Prinzip konnte ich alle Lehrer leiden. Den einen mehr, den anderen weniger. Zwei oder drei fand ich nett. Aber, dass ich gegen irgendjemand einen abgrundtiefen Hass empfand, dass ich mich vor ihnen fürchtete, kann ich nicht sagen. Ich ging gern in die Schule. Am nächsten Tag hatte ich alles vergessen. Und wenn es hieß, Blödsinn zu verzapfen, war ich mit von der Partie. Wenn sich eine Gruppe bildete, so dass man zusammenhalten musste, war ich dabei. Ich verriet keinen. Also, das konnte ich nicht! Und wenn jemand zu mir sagte, ich sei eine Petze, blieb das hängen. Ich dachte: „Na ja, sagst halt lieber nichts mehr!“
Ich ging jedenfalls dadurch nicht verloren. Ich wehrte mich! Trotzdem sprach ich nach dem Unterricht mit niemandem mehr. Das reichte für heute. Es war Zeit heimzugehen!
„Nach Hause?“, fragte ich mich, „Ist das mein Zuhause, mein richtiges Zuhause?“
Obwohl ich noch jung war, begriff ich, dass hier einiges nicht stimmte, dass man mir nicht alles erzählt hatte.
Ich grübelte und sah den Weg nicht mehr. Auch der alte Mann saß nicht mehr auf der Bank. Die wunderbaren Nelken dufteten nicht mehr. Selbst die Kinder vom Kindergarten beeindruckten mich nicht. Ich sah und hörte nichts. Irenes Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Den ganzen Heimweg spukten sie in meinem Gedächtnis: „ ... sind nicht deine Eltern, haben dich nicht lieb!“
Tränen liefen über Mund und Nase, tropften auf die Jacke. Den Rotz schmierte ich mit dem Handrücken bis zu den Ohren.
Auch den Nachbarsjungen vom Fuhrmeisterhaus konnte ich nicht mehr sehen. Immer wollte ich mit ihm spielen. Stets fragte ich ihn: „Kommst du morgen?“
„Ja, ja! Ich komme!“ und dann kam er nicht. Da war ich enttäuscht. Schön war das nicht. Das waren die ersten traurigen Kindheitserinnerungen. Ich begriff, dass nicht alles stimmte, was man mir erzählte.
Und nun wollte er mit mir spielen.
Jetzt hatte ich keine Zeit! Ich ließ ihn stehen.
„Du hast mich auch vergessen!“, rief ich ihm nach.
Zum ersten Mal in meinem kleinen Leben fühlte ich mich verloren. Eine grenzenlose Einsamkeit erfasste mich. Sie trieb mir das Wasser in die Augen. Ich wusste nicht mehr, was und wem ich glauben sollte. Wo gehörte ich hin! Wer war meine Mutter, wer mein Vater? Ich kam mir verlassen vor. Wo kam ich her? Warum hatte man mich weggegeben?
Die Fragen stürzten auf mich ein wie ein tosender Wasserfall. Meine Augen brannten. Meine Gedanken kreisten wirr durcheinander. Das war zu viel. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.
Durfte ich in das Haus gehen? Das waren nicht meine Eltern. Aber wo sollte ich sonst hin?
Mit hängenden Schultern trottete ich den Feldweg entlang. Ich lief wie ferngesteuert auf das Haus meiner Kindheit zu.
Natürlich kam ich zu spät. Emmi hatte garantiert zehnmal auf die Uhr geguckt und geschimpft: „Schule Schluss! Stundenplan abgearbeitet! Zack! Zack! Wo bleibt Martina?“
Mutter erschien auf der Matte und wartete.
„Wo bleibst du?“, vorwurfsvoll schaute sie mir ins Gesicht. „Was ist los mit dir? Komm rein! Iss was!“
Auf dem Tisch stand ein Teller mit Gemüsesuppe. Möhren, Erbsen und Bohnen bauten wir im eigenen Garten an. Stundenlang schnippelten und pulten wir das Gemüse in verschiedene Wannen. Emmi weckte alles ein. Den ganzen Winter über aßen wir davon. Doch es schmeckte matschig. Sie würzte kaum. Dafür konnte sie hervorragend backen. Aber manche Dinge beherrschte sie nicht.
Trotzdem musste ich alles, was auf den Tisch kam, essen.
Mein Vater arbeitete in der Mechanisierung. Mittags lief er nach Hause. Das war seine Pause. Mutter kochte nicht nur für uns zwei, sondern auch für ihre Eltern. Erich erschien um 12 Uhr und ich bekam meine Mahlzeit gegen Zwei.
Doch heute wurde meine Suppe kalt. Ich stand in der Küche und blickte Emmi von unten nach oben an. Die Worte warf ich ihr an den Kopf: „Die haben gesagt, ihr seid nicht meine Eltern! Auf euch brauche ich gar nicht hören!“
Ihre Lippen wurden schmal: „Wer sagt das?“
„Die