39 Karate-Kata. Roland Habersetzer

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39 Karate-Kata - Roland Habersetzer

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zutrauen, selbst zum richtigen Zeitpunkt das Passende auszuwählen? Dies mag eine Utopie sein. Aber dennoch: Die Zeit der künstlichen Beschränkungen auf dem Gebiet der Kampfkünste ist vorüber. Das Budô unserer Epoche ist doch auch – und möglicherweise vor allem – eine Form, individuelle Freiheit zu erlangen, indem man frei und vollkommen über sich selbst – den Körper und den Geist – zu verfügen lernt. Und Freiheit gibt es nur, wenn man zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann. Was – hoffentlich – bleibt, sind freiwillige Beschränkungen, die es ermöglichen, ein wirklich tiefgründiges Verständnis zu erlangen. Jeder muß selbst abschätzen, was sich hinter der alten Weisheit, »sich langsam zu beeilen«, verbirgt. Jeder muß lernen, sein eigenes Richtmaß zu finden, seine Etappen abzustecken, seinen Rhythmus zu finden und Hindernisse zu akzeptieren. Dabei sind Beharrlichkeit wie auch Bescheidenheit gefragt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann es tatsächlich durchaus sinnvoll sein, sich auf die Intelligenz des Schülers bei dessen Auswahl zu verlassen, und dies zu einem früheren Zeitpunkt, als es einst üblich war.

      Die neue Begeisterung für die Kata ist eine großartige Sache, an deren Wiederkehr ich immer geglaubt habe, trotz aller Versuchungen, die ein Karate, das auf den Wettkampf oder auf seine spektakulären Aspekte reduziert wurde, darstellte. Ich will jedoch an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, daß ein Buch lediglich die äußere Form vermitteln kann. Kein Wort, kein Bild vermag den wahren Reichtum einer Kata darzustellen. Dieser kann nur durch die Praxis entdeckt und erlebt werden. Eine Kata zwischen die Seiten eines Buches, ja, selbst in ein Video zu zwängen, ist kaum möglich. So etwas ist bereits bei einer isolierten Einzeltechnik nicht einfach. Die Beschreibung der Kata ist nur eine Art »Umkleidung«. Der tatsächliche Inhalt ist eine andere Angelegenheit. Dennoch, eine Umkleidung, die nicht allzu schwer zu »öffnen« ist, ist bereits ein ermutigender Anfang.

      Dieses Buch ist als echtes Praxis-Handbuch konzipiert, das den Praktiker bis an die Grenze dessen zu führen vermag, was überhaupt durch Beschreibungen vermittelbar ist. Ich hoffe, daß jene, die es nutzen werden, genügend Erfahrung im Karate angesammelt haben, und daß sie so vernünftig sind zu wissen, daß jeder übermäßige Heißhunger abträglich für das Verinnerlichen der Formen ist. Daß die Kata für die Entwicklung des Selbst geschaffen wurden und nicht dafür, Wertschätzung in den Augen anderer zu gewinnen, gilt hierbei in besonderem Maße.

      Viele von Ihnen werden all dies bereits intuitiv gewußt haben. Lassen Sie sich nicht von den Erscheinungsformen und Versuchungen eines modernen Karate, das mehr und mehr zum Spektakel verkommt, irritieren. Vertrauen Sie darauf, daß nur die Kata, die auf hohem Niveau und in vollkommener Selbstlosigkeit praktiziert wird, Sie begreifen lassen wird, was die »Kunst der leeren Hand« tatsächlich bedeutet. Sie werden schließlich unterscheiden lernen, was wirklich zu dieser Kunst gehört und was nicht, und Sie werden erkennen, was unbedingt bewahrt bleiben muß, wenn alles andere vergessen sein wird.

       Die Kata des Wadô-ryû

      Kalligraphie von Meister Ôtsuka Hironori. Sie liest sich von oben nach unten und von rechts nach links: Wa Ten Chi Jin no Ri Dô. Wa – der Frieden bzw. die Harmonie, Ten – der Himmel, Chi – die Erde, Jin – der Mensch, Ri – die Vernunft, – der Weg. Die Botschaft lautet somit sinngemäß: »Das Streben nach Harmonie mit Himmel und Erde ist der einzig vernünftige Weg des Menschen.«

      Ôtsuka Hironori wurde im Jahre 1892 in Shimodate, Japan, geboren. Im Alter von 29 Jahren erhielt er die Experten-Urkunde im Shindô Yoshinryû Jûjutsu, das er bei Tatsaburo Nakayama studiert hatte. 1922 machte er bei einer Vorführung Funakoshi Gichins in Tokio zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Okinawa-te. Schon bald wurde er zu einem der brillantesten Schülern des Meisters, den er in der Folge oft bei Karate-Vorführungen begleitete. Doch seit 1929 begann er, einen eigenen Weg zu entwickeln, indem er das Studium des Jû kumite, den freien Kampf, einführte, während Funakoshi weiterhin ausschließlich Kata lehrte. Sehr bald schon ergab sich daraus eine neue Stilrichtung, und 1935 erfolgte der Bruch mit Funakoshi. Ôtsuka schuf das Wadô-ryû, den »Weg des Friedens«, eine Karateschule, die vor allem auf Flexibilität und Ausweichtechniken basiert. Man findet hier einen sehr deutlichen Einfluß des alten japanischen Jûjutsu, verbunden mit zahlreichen Grundtechniken und Stellungswechseln aus dem Kendô, dem Aikidô und dem Jûdô.

      Die Kata, die Ôtsuka seinen Sohn und Nachfolger Jirô lehrte, der später den Vornamen seines Vaters annahm, stellen somit eine Kombination aus dem okinawanischen Shuri-te und dem Jûjutsu dar. Die Stellungen entsprechen der »alten Art«, d. h., sie sind weniger ausgeprägt als in anderen Karatestilen, ähnlich dem ursprünglichen Shôtôkan. Ôtsuka Hironori starb im Jahre 1982.

      Foto 2: Ôtsuka Hironori (1910)

      Foto 3: Ôtsuka Hironori (1975)

      Foto 4: Diese Aufnahme aus den 30er Jahren zeigt Ôtsuka Hironori (vordere Reihe, 2. v. l.). Zu seiner Linken sitzt Konishi Yasuhiro (1893 - 1983). Des weiteren ist auf dem Foto Mabuni Kenwa (1889 - 1952), der Gründer des Shitô-ryû, zu sehen (vordere Reihe, 2. v. r.).

      Im folgenden werden die fünf Pinan-Kata und danach in alphabetischer Reihenfolge die höheren Kata des Wadô-ryû dargestellt: Bassai, Chintô, Jion, Kûshankû, die drei Kata Naihanchi, Niseishi, Rôhai, Seishan und Wanshu. Auch die zehn Serien des Kihon kumite sind Teil der klassischen Kata des Wadô-ryû, so daß auch diese Partnerübungen hier dargestellt werden.

      Anmerkung 1: Auf den Bildtafeln werden die Sequenzen, die von einem Kiai begleitet werden, mit einem schwarzen Viereck bzw. einem schwarzen Stern gekennzeichnet.

      Anmerkung 2: Die Bezeichnung der Techniken ist in den unterschiedlichen Stilrichtungen nicht immer identisch. – Bei den Beschreibungen der Kata werden in der Regel die stilrichtungstypischen Bezeichnungen verwendet oder in eckigen Klammern hinzugefügt.

      Die Pinan-Kata – Pinan bedeutet Frieden, aber auch innere Ruhe oder friedlicher Geist – wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Itosu Ankô auf Grundlage alter Formen geschaffen. Als Funakoshi Gichin begann, sie in Japan zu lehren, benannte er sie in Heian um, in Anlehnung an eine wichtige Epoche in der Geschichte Japans.

      Die Pinan shôdan des Wadô-ryû entspricht hinsichtlich der Techniken der Kata Heian nidan des Shôtôkan. Ihre Bezeichnung als Shôdan, erste Stufe, entstammt der alten Klassifikation – einst lehrte man sie als erstes. Aufgrund der größeren Schwierigkeiten lernt man sie heute im Wadô-ryû erst nach der Pinan nidan (Nidan bedeutet zweite Stufe).

      1. Nach dem Gruß nimmt man die Haltung Yoi ein.

      2. Ein erster Gegner greift von links mit Jôdan zuki an. Man setzt den linken Fuß ein Stück in seine Richtung, senkt sich am Ort in Mahanmi no nekoashi dachi ab und blockt mit einem linken Jôdan ude uke [Jôdan soto uke]. Der Unterarm wird senkrecht gehalten, die Faustinnenfläche

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