39 Karate-Kata. Roland Habersetzer

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haben. Von diesen wiederum sind ca. 20 von grundlegender Bedeutung. Alle anderen Kata resultieren entweder aus Zerstückelungen alter Kata, aus Verallgemeinerungen von Techniken, oder sie sind das Ergebnis von mehr oder weniger starken (und mehr oder weniger gerechtfertigten) Veränderungen ursprünglicher Kata. Etliche wurden auch von zeitgenössischen Experten neu geschaffen.

      Zu der Zeit, als das Karate noch ausschließlich auf der Insel Okinawa zu finden war – man nannte es damals Okinawa-te, die okinawanische Hand, oder Tô-de, die kontinentale Hand, was sich auf Festland-China bezog –, gab es noch keine Stilrichtungen im heutigen Sinne. Vielmehr existierten zwei wesentliche Strömungen, das Naha-te, für das Meister wie Higashionna und später Miyagi stehen, und das Shuri-te, vertreten durch Meister wie Matsumura, Itosu, Azato, Niigaki und später Funakoshi. Das Tomari-te Meister Matsumora Kôsakus war nur eine kleinere Nebenströmung, die zudem dem Shuri-te sehr nahe war und demzufolge diesem oft gleichgesetzt wird. Die Besonderheiten der zwei Hauptströmungen des Okinawate, der Mutterformen sämtlicher Karatestile, die heute weltweit existieren, fanden sich deutlich erkennbar in ihren Kata wieder. So lag im Naha-te die Betonung auf Kraft, Stabilität, geringen Ortsveränderungen und auf der Atmung, während im Shuri-te größere und geschmeidigere Ortsveränderungen, Ausweichtechniken und schnelle Techniken dominierten.

      Man weiß, daß Funakoshi Gichin als erster dem Begriff Kara-te seinen heutigen Sinn, »leere Hand«, verliehen hat. Mit anderen Schriftzeichen geschrieben, kann Kara-te auch als »chinesische Hand« interpretiert werden; diese Interpretation war vor Funakoshis Neuinterpretation die übliche. Der Geniestreich des Meisters bestand darin, daß er mit einem Wort sowohl den Kampf mit der bloßen Hand ausdrückte, als auch den Begriff der »Leere« ins Spiel brachte, was als Abwesenheit jeglicher schlechter Absicht aufgefaßt werden kann – dies ist der philosophische Sinn des Karate. Zugleich ließ er dabei den chinesischen Einfluß vergessen. Dies war wichtig, da man in Japan in der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert allem Chinesischen gegenüber sehr mißtrauisch war – China galt als »Erbfeind«. Funakoshi ging jedoch noch weiter: Um es den Japanern zu erleichtern, eine fremde Technik zu akzeptieren und ihre Empfindlichkeiten zu schonen, veränderte er die Namen der traditionellen Kata, die er aus Okinawa mitgebracht hatte und die zuvor fast allesamt vom chinesischen Einfluß gezeugt hatten. Dies führt heute mitunter zu Verwirrung, zumal sich teilweise auch technische Einzelheiten geändert haben: Die Übernahme der Kata durch die Japaner brachte technische Veränderungen oder gar Abwandlungen des Gesamtkonzepts der Kata mit sich. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den modernen japanischen Formen und den alten okinawanischen Kata sind mehr oder weniger ausgeprägt. Manche sind einander noch sehr ähnlich, bei anderen hat man sich größere Freiheiten genommen, und die ursprüngliche Grundgestalt ist nur noch schwierig zu erkennen. Die modernen Kata, d. h., Formen, die nach den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, sollen hier nicht behandelt werden. Ihr Nutzen ist vergleichsweise vernachlässigbar gegenüber jenem, den man aus den alten Kata ziehen kann.10

      Die folgenden Kata sind die wichtigsten der aus den beiden Hauptströmungen des Okinawa-te überlieferten. Die heutigen japanischen Namen stehen in Klammern.

      Aus dem Naha-te (später Shôrei-ryû), der Schule Meister Higashionnas, stammen die Kata Seishan (Hangetsu), Seienchin (Saipa), Sanchin, Sanseru, Sûpârinpai (Sûpârimpai), Kururunfa, Shisôchin, Sôchin, Jitte (Jutte), Jion und Naihanchi (Tekki). Die Kata Tenshô und Gekisai wurden erst später durch Miyagi Chôjun geschaffen.

      Aus dem Shuri-te (später Shôrin-ryû) stammen die Kata Pinan (Heian), Kûshankû (Kankû), Wanshu (Enpi), Chintô (Gankaku), Passai (Bassai), Useishi (Gojûshiho), Rôhai (Meikyô), Chinte, Jiin und Wankan aus der Schule von Meister Itosu, und die Kata Niseishi (Nijûshiho) und Unsu (Unsui) aus der Schule von Meister Niigaki.

      Die fünf Pinan-Kata wurden 1907 durch Itosu Ankô geschaffen, in der Absicht, sie für die Ausbildung im okinawanischen Schulwesen zu verwenden, wo Karate als Körperertüchtigung im Lehrplan stand. Als Grundlage hierfür verwendete er die Kata Kûshankû und Bassai. Funakoshi Gichin übernahm sie später in seinen Shôtôkan-Stil, wobei er sie in Heian umbenannte und einige Modifikationen vornahm. Nach 1930 trennte Ôtsuka Hironori sich von Meister Funakoshi, bei dem er Karate studiert hatte, und gründete den Stil des Wadô-ryû. Er gab den fünf Kata wieder ihren ursprünglichen Namen und kehrte auch hinsichtlich der Techniken teilweise zu den alten Formen der Pinan zurück.

      Um 1940 entwickelte Nagamine Shôshin zusammen mit Miyagi Chôjun, dem Gründer des Gôjû-ryû, die Kata Fukyu shôdan und Fukyu nidan.11 Diese Formen waren für Anfänger gedacht, auf die die Schwierigkeiten der Pinan-Kata allzu abschreckend wirkten. Die Shôdan-Form ähnelt im übrigen stark der Taikyoku shôdan, aber die Positionen sind wesentlich höher. In der gleichen Absicht wurden im Shôrin-ryû die Kata Gekisai, Gekiha und Kakuha entwickelt.

      Nach der großen Auswanderungswelle der Experten in verschiedene Länder und dem Ende des »feudalen« Karate, das durch den direkten Unterricht des Schülers durch den Meister charakterisiert war, kam es natürlich zu Veränderungen der ursprünglichen Stile. Dies war unausweichlich bei einer Lehre, die allein auf mündlicher Weitergabe beruht. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang Unterschiede in den Auffassungen und nicht zuletzt auch im Körperbau der Experten. Doch die audiovisuellen Techniken mit ihren Vergleichsmöglichkeiten haben die zerbrechlichen Schranken zwischen den Stilen zu Fall gebracht, und somit ist heute die »Stunde der Wahrheit« für die Kata gekommen. Der beste Garant für Qualität sind alte Kata, die die Zeiten überdauert haben und die durch Meister mit starker Persönlichkeit bewahrt, weitergegeben und verteidigt wurden. Es ist angeraten, modernen Kata und allen persönlichen Interpretationen gegenüber mißtrauisch zu sein, zumindest, wenn sie von sehr jungen Experten stammen.

      Früher wurden die Kata entsprechend ihrer Zielsetzung klassifiziert. So gab es Kata für die Muskelentwicklung, für die Entspannung, Atmemkata, Kata, durch die Schnelligkeit trainiert wurde, Kata mit dem Schwerpunkt auf Blocktechniken usw. Seit es in den Karateklubs jedoch um die »Weiterentwicklung« nach Plan geht, werden sie entsprechend ihrem Schwierigkeitsgrad eingeordnet. Dies führt zu verschiedenen Irrungen: So vernachlässigen oftmals Träger des 1. und selbst schon des 2. Kyû willentlich die fünf Pinan-Kata, die als »geringer« eingeschätzt werden, um sich die »interessanteren« und ihrem Rang angemessener erscheinenden Kata Kankû oder Bassai anzueignen, ohne sich der diesen Kata innewohnenden Fehler bewußt zu sein.

      Als Funakoshi Gichin 1922 nach Japan kam, brachte er lediglich 15 Kata mit sich: die fünf Heian, die drei Tekki, Bassai dai, Kankû dai, Jion, Jutte, Enpi, Hangetsu und Gankaku. Die anderen heute im Shôtôkan-ryû praktizierten Kata wurden später hinzugefügt. Manche davon wurden anderen Stilrichtungen entnommen, die heute die Herkunft für sich reklamieren. Das führt nicht selten zu Konflikten hinsichtlich der »Orthodoxie« der Kata.

      Um in dieser Hinsicht mehr Klarheit zu gewinnen und um gemeinsame Nenner für die vielen »Katameisterschaften« zu finden, schuf man im Jahre 1986 das System der Shitei kata: Jeder der vier Hauptstile sollte seine beiden repräsentativsten und bekanntesten Kata auswählen, die als Grundlage für Meisterschaften dienen sollten und darüber hinaus auch für die offiziellen Lehrsysteme der Stile und die entsprechenden Gürtelprüfungen. Die folgenden Kata wurden ausgewählt:

      Für den Shotokan-ryû die Kata Jion und Kankû dai, für den Wadô-ryû die Kata Seishan und Chintô, für den Shitô-ryû die Kata Seienchin und Bassai und für den Gôjû-ryû die

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