39 Karate-Kata. Roland Habersetzer
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Der reale Kampf
Die hypothetische Ausgangslage ist immer die, daß man von mehreren Gegnern angegriffen wird, die über unterschiedliche Stärke, Techniken und Geschicklichkeit verfügen, was keinerlei Irrtum bei der Einschätzung des Gegners erlaubt. Zuallererst ist die Kata die Darstellung eines Kampfes auf Leben und Tod. Demzufolge ist jeglicher Einsatz von Kraft und Energie, jeder Siegeswille dabei gerechtfertigt. Man muß im Kampf alles geben, andernfalls besteht die Gefahr, daß es der letzte ist. Die Kata ist demzufolge ein rückhaltloser Versuch, alle energetischen Ressourcen – physische und psychische – zu mobilisieren, die für gewöhnlich tief im Innern des Menschen schlummern. Sie ist ein Stimulus, der es dem Praktizierenden gestattet, zu »explodieren«, über das hinauszugehen, was er für möglich gehalten hätte, da er sich plötzlich im Eifer der Aktion selbst entdeckt und feststellen muß, daß er mehr ist, als er geglaubt hat. Es ist interessant festzustellen, daß die Kampfmuster, die durch die Kata dargestellt werden, trotz ihres Alters nicht überholt sind. Sie enthalten sämtliche effektiven Karatetechniken, und im Gegensatz zum modernen Sportkarate, bei dem man mit einem einzigen Gegner konfrontiert ist, versetzen sie den Kampf in eine ganz andere Dimension: Indem die Kata auf intelligente Weise die Bedingungen für einen totalen Kampf schafft, bringt sie den Karateka dazu, daß er in alle Richtungen abwehrt, ausweicht und blockt, über Angriffe hinwegspringt, mit realistischen Abfolgen von Fauststößen und Fußtritten kämpft, zupackt, wirft und den Rhythmus verändert. Es ist richtig, daß manche Sequenzen zunächst schwierig im realen Kampf anwendbar erscheinen, daß an anderen Stellen Blöcke ohne Gegenangriff erfolgen oder daß man mitunter sehr langsam blockt. Solche Dinge lassen beim Anfänger Zweifel entstehen. Doch all dies klärt sich im Laufe der Zeit auf. Je weiter man vorankommt, desto mehr weichen die Grenzen des Nichtverstehens zurück. Man entdeckt, daß manche Gegenangriffe nicht einmal angedeutet werden, damit man sie im Geiste um so besser »sehen« kann, und das selbst die sonderbarsten Abläufe einen ganz präzisen Sinn haben. Für jede unklare Passage, jedes »Geheimnis«, bedarf es eines Schlüssels, der stets auch existiert, entweder in der Kata selbst oder in einer anderen Kata. Hat man den Schlüssel einmal gefunden, eröffnen sich unerwartete neue Sichtweisen.
Früher bezeichnete man die Kata als »unendliche Schätze« oder als »ungeschriebene Tradition«. Die Kata sind uns zusammen mit ihren Geheimnissen überliefert worden, welche die alten Meister der Kunst nicht immer klar anhand der Techniken erklären konnten oder wollten.7 Es ist wichtig, diese Geheimnisse selbst zu entdecken. Dies ist eine Frage des Trainings, des Willens und der Zuversicht.
Die Ausübung des Stils
Viele alte Kata haben ihren ursprünglichen Sinn verloren. Genauer gesagt, hat man ihn verloren, wie man eine Spur verliert: mangels Aufmerksamkeit oder mangels Verständnis. Meistens ist nur die äußere »Form«8 geblieben, die »Prägeform«, die zu nichts anderem dienen sollte, als dem Wesentlichen Gestalt zu verleihen. Dies ist der Grund, weshalb man auf keinen Fall zulassen darf, daß auch noch die Form verändert wird. Andernfalls wäre alles unrettbar verloren. Die Kata wäre dann nichts weiter als eine Art Gymnastik. Wenigstens die Form muß bleiben. Hartnäckig an der Ausführung der Kata festzuhalten, wie sie in einer Stilrichtung überliefert wurde, bedeutet, sich die Möglichkeit einer Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung offenzuhalten. Die Tür, die dies vielleicht eines Tages ermöglicht, darf sich nicht schließen. In einer Kata kann sich das kleinste Detail – insofern es ursprünglich ist – als wesentlich entpuppen. Als Teil des hinterlassenen Erbes kann es helfen, das Ganze zu verstehen. Es zu vernachlässigen, oder schlimmer noch, zu verändern, bedeutet, die Kata als Ganzes zu treffen. Die Stilrichtung ist so etwas wie ein Führer zu der Idee, die am Anfang der Kata stand. Es ist wahr, daß, selbst im Rahmen einer bestimmten Schule, der Stil sich mit der Zeit und in Abhängigkeit von den jeweiligen Experten entwickelt. Daß ein Experte eine Kata abwandelt, kann u. a. an seinem Körperbau, an bestimmten Vorlieben oder persönlichen Forschungen liegen. Mitunter entstehen auf diese Weise kuriose Mischformen, bei denen es schwierig ist, das Richtige wiederzufinden.
Immer jedoch wird die Kata zumindest ein physisches Training mit offensichtlichem Nutzen sein. Der Karateka lernt, seinen Körper zu beherrschen, bestimmte Rhythmen zu entdecken, die Atmung richtig einzusetzen, in jedem Augenblick das Gleichgewicht zu bewahren, Schnelligkeit, Kraft und Harmonie in den Bewegungen zu entwickeln. All dies geschieht auf Grundlage des Gedankenguts, das dem Stil zu eigen ist, dem die Kata zugehört. Man muß immer versuchen, bei der Ausführung so genau wie möglich an den Vorgaben der jeweiligen grundlegenden Stilrichtung zu bleiben, selbst wenn das schon bald zu physischen Schwierigkeiten oder mentalen Blockaden führen sollte. Die technische Perfektion ist die Bedingung für die Effektivität. Der Wille, bei seinem Stil zu bleiben, ist etwas Grundsätzliches, vor allem in den Anfangsjahren der Karatepraxis. Dennoch ist das nicht alles, und wenn man sich in dieser Hinsicht sein ganzes Leben lang einschränkt, so ist man dazu verurteilt, niemals zum Wesen der Kunst vordringen zu können.9
Der Geist der Kata
Ein Buch kann mehr oder weniger gut Techniken darstellen, es kann jedoch nicht dazu verhelfen, die tiefen Empfindungen zu entdecken, die für das echte Verständnis einer Kata notwendig sind. Dazu reicht es nicht aus, wie beim Kihon die Bewegungen zu lernen, sondern man gelangt dahin über den Rhythmus einer Kata. Die Kata ist eine Art Bewegungsalchemie, die für denjenigen, der sie exakt ausführt, das innere »gewisse Etwas« wiederentstehen läßt, das jemand eines Tages in einem bestimmten Moment empfunden und für hinreichend wichtig gehalten hat, daß er versuchte, es weiterzugeben. Die Kata ist auch ein Ritus, ein Tanz, über den versucht wird, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen. Doch damit diese Magie funktioniert, bedarf es mehr als nur der äußeren Form, selbst, wenn diese exakt reproduziert wird. Man jenes »gewisse Etwas« nur selbst entdecken, es muß »erlebt« werden. Es würde nichts nutzen, darüber zu sprechen, zumal diese innere Empfindung eine Frage des Alters sowie des technischen und geistigen Niveaus des Karateka ist. In dieser Hinsicht ähnelt die Kata den Taolu des Wushu und generell der Orientierung aller »inneren Stile«.
Die Kata erinnert daran, daß zwischen den Dingen, zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit, ein unsichtbares Band existiert. Suchen muß man es selbst. Es gibt die offenkundige Bewegung, und es gibt ihren verborgenen Sinn. Es ist möglich, an der Ausführung der Bewegung zu erkennen, zu welchem Grad des Verstehens der Praktizierende vorgedrungen ist. Die Kata kann, je nach Niveau des Ausführenden, stereotype, leblose Gymnastik sein oder eine fortwährende, lebendige Schöpfung. Sie erinnert all jene, die zu »sehen« in der Lage sind, daran, daß das Karatedô in erster Linie eine Suche nach der so komplizierten Verbindung zwischen dem Menschen und dem Universum ist, eine Hymne an die universelle Harmonie und den Frieden. Letzteres ist im übrigen auch der Grund dafür, weshalb die erste Bewegung jeglicher Kata generell eine Abwehr ist. Dies bedeutet, daß man sich auf den Kampf nur dann einläßt, wenn dies vollkommen unumgänglich ist. Funakoshi Gichin brachte diesen Gedanken mit den folgenden Sätzen zum Ausdruck: »Im Karate entsteht keinerlei Vorteil durch einen ersten Angriff«. »Im Karate gibt es keinen ersten Angriff« (»Karate ni sente nashi«).
Das Panorama der Kata
Die Entwicklung des Karate und die Vervielfältigung der Stilrichtungen hat zur Entstehung von mehr und mehr Kata geführt – ein Zustand, der den Anfänger