Was den Raben gehört. Beate Vera

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Was den Raben gehört - Beate Vera

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Einige Nachbarn hatte er aber nicht davon überzeugen können. Kurz bevor Glander nach Dänisch-Nienhof aufgebrochen war, hatte ihn Hartmut Michalke, ein Anwohner des Dürener Wegs, mit seinen Schwadronaden über Handfeuerwaffen genervt, und Glander hatte sich beim besten Willen und der Anwendung aller ihm bekannten Gesprächstaktiken nicht aus der Situation herauswinden können.

      Die Michalkes waren aktive Schützen. Das Ehepaar hatte einen Waffenschrank im Keller, beide hatten entsprechende Lizenzen und wähnten nun, in Glander endlich einen ebenbürtigen Gesprächspartner in der Nachbarschaft gefunden zu haben. Glander war immer wieder baff über diese sehr speziellen West-Berliner Charaktere, die ohne Unterlass redeten. Antworten waren dabei gar nicht vonnöten, Hauptsache, sie erzählten. Zu dieser Sorte Mensch gehörten auch die Lehmann-Schwestern. Glander hatte für seine Verhältnisse zu oft Ausreden erfinden müssen, warum er keine Zeit hatte, um mit ihnen über die neuesten Entwicklungen des ehemaligen Parks-Range-Geländes zu reden. Dieses Areal hatte eine sehr umstrittene Baugenehmigungshistorie, bei der sich der Berliner Senat einmal mehr von seiner inkompetenten Seite gezeigt hatte. Das Verschwinden der eigenen Mutter mochte allerdings die Verschrobenheit der beiden Lehmann-Schwestern erklären. Die waren, objektiv betrachtet, keine unangenehmen Nachbarinnen. Das lag auch daran, dass sie nur selten daheim waren. Gudrun und Sigrun Lehmann besaßen je ein eigenes Pferd, das in einem Reitstall in Brandenburg untergebracht war. Ihr sehr spezieller Kleidungsstil sorgte regelmäßig für ein Schmunzeln bei den Nachbarn. Besondere Favoriten aus den Kleiderschränken der Schwestern waren die wattierten Morgenmäntel, die ihren Farbkonzepten entsprachen und ein breites Grinsen auf den Gesichtern der Nachbarn hervorriefen. Gudrun, die ältere der beiden Schwestern, bevorzugte ein kräftiges Rosaviolett, Sigrun ein leuchtendes Blaugrün. Glander zog eindeutig Leas Stil vor, der sich durch viele gedeckte Farbtöne auszeichnete.

      Bevor seine Gedanken in Leas Richtung abdriften konnten, fragte Glander Harnack: »Wer ermittelt denn? So ein alter Fall ist vermutlich eine ziemlich harte Nuss.«

      »Und auch das wird dir nicht gefallen: Prinz hat sich den Fall an Land gezogen. Und er zeigt sich so motiviert wie eh und je.«

      Glander fuhr sich durchs straßenköterblonde Haar. Lea hatte ihm einmal eine perfekt passende englische Beschreibung für seinen ehemaligen Kollegen geliefert: Rolf Prinz sei nicht in der Lage, seinen Weg aus einer Papiertüte heraus zu ermitteln, strotzte aber vor Selbstbewusstsein. Niemand konnte sich erklären, wie er seinen Posten so lange hatte halten können. Sicherlich spielten dabei die hervorragenden Assistenten, die er sich stets auszusuchen pflegte, eine bedeutende Rolle. Nicht umsonst hatte Glander sich gemeinsam mit Merve Celik selbstständig gemacht, Prinz’ letzter Assistentin. Sie war eine ausgezeichnete Kripobeamtin gewesen und hatte eine hohe Aufklärungsrate vorzuweisen, auch wenn Prinz sich mit diesen Erfolgen geschmückt hatte. Man munkelte, dass er beste Verbindungen in die oberste Führungsebene hatte. Glander vermutete, dass er das Glück gehabt hatte, vor vielen Jahren bei irgendeiner Schmutzwäsche das Waschbrett gehalten zu haben, und nun davon zehrte.

      »Na, da erwartet hoffentlich niemand unmittelbare Erkenntnisse«, konstatierte Glander trocken.

      Aufgeregt warf Harnack ein: »Eben! Und deshalb möchten die Damen Lehmann, dass du dich des Falles annimmst. Warte mal, ich gebe dir Lea, die hat die beiden gerade mit Hochprozentigem versorgt. Hier ist sie.«

      »Hallo, Martin! Bist du noch weit weg? Die beiden sind völlig durch den Wind. Es gibt da auch noch einen kleinen Bruder, Holger, zu dem sie aber schon jahrzehntelang keinen Kontakt mehr haben. Was ich bislang aus ihnen herausbekommen habe, ist nur, dass die Familie all die Jahre dachte, die Mutter habe sich aus dem Staub gemacht und die Familie sitzenlassen. Schon das wäre ja hart genug …«

      Glander konnte sich eines leichten Anflugs von Stolz nicht erwehren. Lea war offiziell keine Mitarbeiterin seiner Agentur, dennoch hatten die Ereignisse im September ihr Interesse für seine Arbeit geweckt. Das war nicht von der Hand zu weisen. Lea hatte in Schottland Anglistik, Germanistik und im Nebenfach Psychologie studiert. Nach der Krebsdiagnose ihres Mannes hatte sie ihre langjährige Tätigkeit als Simultandolmetscherin aufgegeben und bisher noch nicht wieder aufgenommen. Sie hatte erst einmal wieder Boden unter den Füßen gewinnen müssen, wie sie es formulierte. Trotz einiger sehr guter Angebote schien sie nicht in ihren alten Beruf zurückkehren zu wollen. Der Fall im September hatte zudem etwas ganz anderes bei ihr in Bewegung gesetzt: Lea hatte ein paar alte Kontakte spielen lassen und sich eine Gasthörerschaft für Forensische Psychiatrie an der Freien Universität Berlin verschafft.

      Erst jetzt bemerkte Glander, wie erkältet Lea klang. »Lea, mach langsam, ich bin in zehn Minuten bei euch. Ist deine Erkältung nicht besser geworden?«

      »Nein, im Gegenteil, ich bin ziemlich erschöpft, aber ich kann die beiden jetzt auch nicht heimschicken. Ich meine, stell dir vor, du hast beinahe fünfzig Jahre in dem Glauben gelebt, deine Mutter habe dich und die Familie im Stich gelassen, und dann findest du heraus, dass sie ermordet wurde!«

      »Ich weiß. Das muss sehr schlimm für die beiden sein. Wie gesagt, ich bin gleich da, und dann rede ich mit ihnen. Ich bin schon am Hindenburgdamm.«

      Sie verabschiedeten sich, und Glander rief Merve an.

      *

      Merve Celik, Exkommissarin des LKA 1 und Glanders Partnerin in der Ermittlungsagentur Celik & Glander, legte die Farbrolle in den Tiegel und wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne ihrer schwarzen Lockenpracht aus dem Gesicht, die voller apfelgrüner Farbsprenkel war. Günay hatte auf der Farbe bestanden, und Merve wusste, dass es sinnlos war, mit ihrer fünfjährigen Nichte zu diskutieren, wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Merve hatte auch gar nicht vor zu diskutieren. Günay und ihre zwei Jahre ältere Schwester Gülsen hatten genug durchgemacht. Merves Schwester Sevgi hatte ihren Mann nach acht Jahren Ehe verlassen. Acht Jahre, in denen er sie regelmäßig geschlagen und erniedrigt hatte. Merve hatte davon erst erfahren, als ihre Schwester mit den Kindern eines Tages vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte, weil er sich auch an ihnen hatte vergreifen wollen. Kadir, Merves Schwager, tobte vor Wut über den angeblichen Hochverrat seiner Frau und lauerte ihr ein paar Tage später vor der Kita auf. Acht Wochen lang hatte Sevgi anschließend im Krankenhaus gelegen. Sie würde für immer entstellt bleiben, aber wenigstens lebte sie.

      Ein Blick aus dem Fenster ließ Merve über das nasskalte Wetter fluchen. Die Farbe würde eine ganze Zeit lang zum Trocknen brauchen, und Günay würde noch ein paar Tage auf ihr Zimmer warten müssen. Merve stieg die Treppe hinab und ging ins Wohnzimmer. Sevgi saß auf dem Sofa und nähte einen Vorhang. Als sie Merve bemerkte, blickte sie von ihrer Arbeit auf und lächelte. Zwei wulstige Narben, Folgen der tiefen Schnitte, die ihr Mann ihr zugefügt hatte, durchzogen ihr Gesicht und verzerrten ihr Lächeln. Sevgi hatte drei Bauchoperationen durchstehen müssen, aber die Ärzte hatten gesagt, alles sei gut verheilt und sie habe großes Glück im Unglück gehabt. Wie jedes Mal, wenn sie ihre Schwester ansah, musste Merve an den Anruf ihres Kollegen denken, der ihr von dem Angriff auf ihre Schwester berichtet hatte. Gewaltige Wut durchströmte sie, und ihre Hände begannen zu zittern.

      Sevgi legte ihr Nähzeug beiseite und zeigte neben sich auf das Sofa. »Komm, mach eine Pause, der Tee ist noch warm. Oder willst du lieber ein Bier? Das ist im Kühlschrank.«

      Kadirs Prozess würde im März beginnen, bis dahin saß er in U-Haft. Die Mädchen waren in therapeutischer Behandlung und schienen gute Fortschritte zu machen. Endlich wieder ein eigenes Zuhause zu haben tat ihnen gut. Merve war sehr gerührt davon, wie schnell Lea ihrer Schwester und den Kindern dieses Haus im Dürener Weg vermittelt hatte. Es hatte seit dem Sommer leer gestanden, da der Besitzer ums Leben gekommen war, ein im Ausland lebender entfernter Verwandter kein Interesse daran hatte und auch der Makler es nicht losgeworden war. Lea hatte damals die Leiche des Hausbesitzers gefunden und Glander bei den Ermittlungen kennengelernt. Später hatte sie einen lächerlich geringen Kaufpreis mit dem Makler verhandelt, und jetzt gehörte dieses kleine Reihenhaus Merve.

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