Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik

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Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik

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zu überhören. Er redete andauernd, am liebsten über seine Heldentaten. Aus der Angst heraus, nicht wahrgenommen zu werden, hatte er ständig Dutzende von Projekten am Köcheln. Etwas anleiern nannte er das. Mal gründete er einen neuen Kinderladen, mal eine Stadtteilzeitung, mal einen Tennisverein, mal eine neue linke oder linksliberale Studentenvereinigung. Sein Verhalten war aber nicht nur mit seiner geringen Körpergröße zu erklären, sondern auch mit seinem verzweifelten Bemühen, aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters und seiner Mutter zu treten.

      Ernest Erkenbrecher war Professor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in der Hardenbergstraße und eine feste Größe im Kulturbetrieb. Es gab kein Kuratorium, in dem er nicht saß, und er war Duzfreund vieler Senatoren und erlesener Schöngeister. Zudem konnte er Essays verfassen wie kein Zweiter. Um gegen diesen Vater eine Chance zu haben, musste sich Rainer Erkenbrecher schon viel einfallen lassen.

      Auch seine Mutter, Oberstudienrätin für Chemie und Mathematik an einem Steglitzer Gymnasium, setzte ihm mit ihrem Bildungsfimmel gehörig zu und hielt ihn schon deswegen für geistig zurückgeblieben, weil er nie recht begriffen hatte, wozu ein Algorithmus oder die Primzahlen gut sein sollten.

      Das Abitur hatte Rainer Erkenbrecher nur mit Ach und Krach geschafft, dann in seinem Politologiestudium an der FU Berlin jedoch so viel geleistet, dass sie ihn nach dem Diplom zum Assistenten gemacht hatten. Nun war er zwar kein echter Linker, sondern fühlte sich eher als freischwebender Intellektueller mit einem Hang zum Liberalen, wenn nicht gar zum Konservativen, doch weil er mit einer solchen Geisteshaltung an der FU keine Chance gehabt hätte, spielte er Kommilitonen wie Professoren den gläubigen Marxisten vor.

      Er war Assistent und saß an einer Dissertation zum Thema Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Kampf gegen Hakenkreuz und Sowjetstern. Außerdem schrieb er an einem Artikel über die Hintergründe und Folgen des Lichtenberger Butter-Krawalls. Darin ging es um die Revolte hungernder Berliner, die es am 16. Oktober 1915 auf dem Boxhagener Platz gegeben hatte. Der lag nun in Ost-Berlin, und vor Ort zu recherchieren war für einen West-Berliner faktisch unmöglich. Da sein Vater aber in der Nähe von Wunsiedel ein Wochenendhaus besaß, war es ihm gelungen, sich einen bundesrepublikanischen Reisepass zu verschaffen, so dass er jederzeit in die Hauptstadt der DDR einreisen konnte.

      Was seine Freunde und seine Frauen betraf, so bevorzugte er jene Typen, über die sich seine Eltern am meisten aufregten.

      Erkenbrecher sah die Maschine der Pan Am, in der sein Onkel sitzen musste, über Treptow und Neukölln einschweben, über die Hermannstraße und die Gräber des St.-Thomas-Friedhofes hinweg. Ihm war dabei immer ein wenig mulmig zumute, aber seit den Tagen der Blockade hatte es über dem Stadtgebiet keinen Flugzeugabsturz mehr gegeben.

      Der Verwandte, den er abholen wollte, war ein Cousin seines Vaters. Dr. Julius Lilienblum, ein Jude, der 1933 als junger Arzt in die USA gegangen war. Sie hatten sich nicht öfter als dreimal in ihrem Leben gesehen, aber er mochte den Kauz aus Massachusetts. Er kam ihm vor wie ein Dinosaurier, wenn er aus der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten erzählte.

      Aus dem Lautsprecher kam die Ansage, dass die Maschine soeben gelandet sei, und Erkenbrecher stellte sich an das Tor, aus dem die Passagiere nach Pass- und Zollkontrolle kommen mussten. Wieder einmal ärgerte ihn die Tatsache, dass nur die Fluggesellschaften der Alliierten West-Berlin anfliegen durften, also die Pan Am, die BEA und die Air France, nicht aber die Lufthansa. Die drei Luftkorridore nach Berlin waren den Besatzungsmächten, offiziell Schutzmächte genannt, vorbehalten.

      Erkenbrecher fragte sich, ob der Mann, der ihm nun entgegeneilte, wirklich sein Onkel war, doch als sich der untersetzte Herr mit der fliegenden Einsteinmähne aus der Schar der Passagiere löste und auf ihn zusteuerte, war er sich sicher, den Richtigen vor sich zu haben. Dennoch fragte er: «Herr Dr. Lilienblum?»

      «Ja, mein Junge. Hallo! Du bist der Rainer Erkenbrecher?»

      «Richtig erraten!»

      Sie gaben sich die Hand.

      «Du bist also das ganze Empfangskomitee?», fragte Lilienblum scheinbar ein wenig enttäuscht.

      «Ja, dein Herr Vetter sitzt in einer Prüfungskommission und versucht, junge Menschen glücklich zu machen, und meine liebe Mutter ist zu sehr preußische Beamtin, als dass sie auch nur eine Sekunde daran denken würde, eine Unterrichtsstunde ausfallen zu lassen, um dich vom Flughafen abzuholen.»

      «Aber du konntest kommen», stellte Lilienblum fest, während sie an das Förderband traten, um auf seinen Koffer zu warten. «Bist du arbeitslos?»

      «Nein, ich habe eine Assistentenstelle am OSI.»

      «Wo?» Lilienblum versuchte, das zu deuten. «Am Ordentlichen Sozialistischen Institut?»

      «Am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Politologie und Politische Soziologie. Aber deine Interpretation bringt es besser auf den Punkt. Otto Suhr war Regierender Bürgermeister, daher die Otto-Suhr-Allee zwischen Ernst-Reuter-Platz und Charlottenburger Schloss.»

      «Das kenn ich wohl, aber wo liegt der Ernst-Reuter-Platz?»

      «Der hieß früher Knie.»

      Lilienblum grinste. «Ah ja. Früher haben wir immer gesungen: ‹Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz.› Am Knie – das war doch ein origineller Name.»

      Der Koffer aus Massachusetts lag endlich auf dem Band. Erkenbrecher packte ihn, schleppte ihn zum Wagen, einem Renault R4, und verstaute ihn.

      «Was nun?», fragte Erkenbrecher. «Willst du dich ein wenig ausruhen, sollen wir gleich nach Lichterfelde fahren – oder hast du Lust auf eine kleine Stadtrundfahrt?»

      Lilienblum musste einen Augenblick überlegen. «Bitte keine große Sightseeing-Tour, aber vielleicht machen wir einen kleinen Umweg über den Bayerischen Platz. Ich habe immerhin zehn Jahre in der Münchener Straße gewohnt.»

      «Aye, aye, Sir, wird gemacht.» Erkenbrecher umrundete den Platz der Luftbrücke und erklärte dem Gast, dass die Berliner einen Hang dazu hatten, ihren Bauten witzige Namen zu geben. «Der Funkturm ist der Lange Lulatsch, die Kongresshalle die Schwangere Auster und das Luftbrückendenkmal zu unserer Linken die Hungerharke.» Damit überquerte er die Kreuzung Mehringdamm / Tempelhofer Damm und fuhr in die Dudenstraße.

      Lilienblum schloss die Augen und versuchte, sich den Berliner Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen. «Kolonnenstraße, rechts in die Potsdamer, dann an dem riesigen Gebäudekomplex vorbei, in dem die Bauleitung der Reichsautobahn sitzt, und links rein in die Grunewaldstraße.»

      «Lilienblum, setzen, Eins bis Zwei!», rief Erkenbrecher im Tonfall seiner Mutter.

      «Warum keine glatte Eins?»

      «Weil es kein Reichsautobahnamt mehr gibt», erklärte ihm Erkenbrecher. «Da sitzt jetzt die Hauptverwaltung der BVG.»

      «Wie soll ich das denn in meinem kleinen Nest in Massachusetts erfahren haben?», protestierte Lilienblum. «Dafür eine halbe Note Abzug zu bekommen ist ungerecht. Mein Vater wird das seinem Rechtsanwalt übergeben.»

      Als sie das Viertel um den Bayerischen Platz erreicht hatten, war jede Heiterkeit verflogen. Kamen sie an den Erinnerungstafeln vorbei, die vom Bezirksamt an Laternenpfählen angebracht worden waren, musste Erkenbrecher langsam fahren, damit sein Onkel sie lesen konnte.

      1938: Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren.

      1940:

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