Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik

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Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik

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er, Zützer, alles Schöngeistige und Parfümierte ebenso verabscheute wie alle Kulturfunktionäre. Ernest Erkenbrecher war für ihn der GröSchwäZ, der größte Schwätzer aller Zeiten, oder ersatzweise Old Sabberlippe.

      Auch auf Georgia Erkenbrecher hatte er sich eingeschossen, denn die Lehrkräfte der West-Berliner und westdeutschen Gymnasien waren für ihn allesamt Büttel des Kapitalismus, von den Herrschenden engagiert, um die Arbeiterklasse und Kinder der kleinen Angestellten und Beamten – mochten sie auch noch so begabt sein – von den Universitäten und damit den Schalthebeln wie den Fleischtöpfen dieses Landes fernzuhalten.

      Dass ausgerechnet Rainer Erkenbrecher sein bester Freund war, erschien Günther Zützer als Witz der Weltgeschichte. Aber so war es nun einmal. Die berühmte Chemie. «Wie bei Romeo und Julia», spottete er des Öfteren.

      Kennengelernt hatten sie sich ganz unspektakulär bei einem Sit-in an der FU, und zwar im Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Garystraße. Als ein paar Professoren dumme Reden geführt hatten, waren zwei Kommilitonen neben ihm auf die Idee gekommen, einen Feuerwehrschlauch aus einem Kasten zu reißen, ihn an einen Hydranten anzuschließen und die Räume der Hardliner unter Wasser zu setzen. Ihm war es bei dieser Aktion zugefallen, eine Glastür zu zertrümmern, während Rainer Erkenbrecher versucht hatte, die gusseiserne Spritze durch die Öffnung zu schieben. Dabei hatte Erkenbrecher sich die Unterarme aufgerissen und so geblutet, dass sich Zützer sein Oberhemd vom Körper gerissen hatte, um ihn zu verbinden. Anschließend war er mit Erkenbrecher ins Krankenhaus gefahren, und sie waren sozusagen Blutsbrüder geworden. Unter Fotos aus dieser Zeit stand: Winnetou und Old Shatterhand an der FU.

      So fand er es auch nicht verwunderlich, dass er von Rainer Erkenbrecher gebeten wurde, Yvonne von zu Hause abzuholen und mit nach Lichterfelde zu bringen. Yvonne wohnte in einer WG in der Pflügerstraße und war Schauspielerin. Sie gehörte zum Ensemble eines Off-Theaters, verdiente ihr Geld als Statistin beim Film, insbesondere als unterklassige Liebesdienerin, und träumte von einer großen Karriere an der Schaubühne. Zützer hatte mit ihr zwei- bis dreimal geschlafen und sie sofort ins Spiel gebracht, als Erkenbrecher davon gesprochen hatte, seine Eltern und seine Verlobte damit schocken zu wollen, dass er sich eine Nutte zum Geburtstag wünsche. Eine echte zu engagieren hatte er dann aber doch nicht gewagt. Zützer hatte kommentiert, Erkenbrecher habe die besten Anlagen, um einmal bei den Sozialdemokraten zu landen.

      Als er Yvonne in der Pflügerstraße am Straßenrand stehen sah, stieß er die Tür auf der Beifahrerseite auf.

      «Wie viel kostet es heute bei dir?»

      «Fünfzig, aber mit Präser.»

      «Gut, die zahl ich gerne.» Zützer zog den Zündschlüssel ab und schwang sich aus seinem Kleinwagen.

      «Das ist Rainers Geburtstagsgeschenk und nicht deines!», rief Yvonne.

      «Ja, symbolisch. Du denkst doch nicht etwa, dass Martina ihn einen Augenblick aus den Augen lässt und ihr beide wirklich … » Schon stand Zützer neben ihr. «Ich mein das ernst: Fünfzig Mark, und du spielst die Nutte.»

      «Okay.» Yvonne liebte solche Szenen. «Her mit dem Geld, sonst läuft nüscht, mein Kleena.»

      Zützer zog den Geldschein aus der Tasche, und Yvonne spielte daraufhin in der Wohnung ihre Rolle so echt, dass die Nachbarin gegen die Wand klopfte und sich über «det fürchterliche Jestöhne» beschwerte.

      «Lassen sie dich mit deiner klapprigen Ente überhaupt nach Lichterfelde rein?», fragte Yvonne, als sie sich endlich auf den Weg machten.

      Zützer zuckte mit den Schultern. «Kann schon sein, dass wir nicht ankommen, denn auf irgendeiner Fahndungsliste stehe ich bestimmt.»

      Auf der Fahrt von Neukölln nach Lichterfelde unterhielten sie sich über das Attentat, das die Tupamaros in Montevideo begangen hatten, und über Heinz Rühmann, der anlässlich seines siebzigsten Geburtstages in der Filmbühne Wien am Kurfürstendamm die Ehrenmedaille der deutschen Filmwirtschaft erhalten hatte.

      «Ein unvergleichlicher Schauspieler!», schwärmte Yvonne.

      «Und dazu ein wunderbarer Propagandist der Nazis», sagte Zützer. «Von seiner jüdischen Frau ließ er sich sicherheitshalber scheiden.»

      Yvonne staunte. «Ich denke, Die Feuerzangenbowle ist dein Lieblingsfilm?»

      «Ja.» Zützer schlug mit der Faust auf die Hupe. «Es ist schon eine schöne Scheiße, Deutscher zu sein!»

      «Ich kann es nicht fassen», sagte Yvonne, als sie die Villa am Kadettenweg erreicht hatten. «Du als Anarchist zu Gast bei den Erkenbrechers … »

      Zützer lachte. «Lieber schizophren als ganz allein.» Rainer Erkenbrecher kam ihnen entgegen, und die beiden Freunde lagen sich in den Armen, während Zützer seine Glückwünsche an den Mann brachte. «Geschenkt bekommst du von mir zwei Nummern mit Yvonne. Stellung nach eigener Wahl. Ich würde a tergo empfehlen, aber reiten kann sie auch ganz gut.»

      Martina, Erkenbrechers Verlobte, stand am Gartentor und verfolgte das Ganze mit finsterer Miene. Einerseits tat sie Zützer leid, andererseits aber hoffte er, dass es mit den beiden bald aus sein würde, denn sie war keine Frau für einen Rainer Erkenbrecher.

      Martina Grabow war 1951 in Berlin-Pankow auf die Welt gekommen, also in Ost-Berlin, aber vor dem Mauerbau mit ihren Eltern nach West-Berlin gegangen, wo sie eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der AOK bekommen hatte. Sie war hübsch, aber mehr als bieder, vom Temperament her eine echte Schlaftablette und dazu herzlich ungebildet. Unter den Künstlern und Intellektuellen, die in der Lichterfelder Villa der Erkenbrechers ein und aus gingen, wirkte sie wie ein Fremdkörper. Das scherte sie jedoch wenig, denn sie hielt die anderen Frauen allesamt für eingebildete Zicken, die möglichst schnell zum Psychiater gehen sollten.

      Die Zeremonie nahm ihren Lauf, und bald hatten sich über fünfzig Gäste auf dem Rasen hinterm Haus versammelt. Um alle standesgemäß zu verköstigen, hatten die Erkenbrechers ein Team des KaDeWe bestellt, das hinter riesigen Tischen stand und den Leuten Erlesenes auf die Teller häufte. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Combo, und Ernest Erkenbrecher kündigte in einer kleinen Rede von zwanzig Minuten für den späten Abend noch prominente Überraschungsgäste an.

      «Na, was sagst du zu dieser Dekadenz?», wurde Zützer von Yvonne gefragt.

      Er lachte. «Besser Dekadenz als Egon Krenz.» Den Vorsitzenden der Pionierorganisation Ernst Thälmann hielt er für einen ganz besonderen Simpel des DDR-Regimes, und oft fragte er sich, ob das andere Deutschland nicht viel größere Chancen gehabt hätte, als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorzugehen, wenn an seiner Spitze nicht solche Pappnasen wie Ulbricht und Honecker gestanden hätten, sondern Männer von Format.

      Schnell begann Zützer sich zu langweilen. Nicht mal einen Flipper gab es hier, und Tischtennis spielen konnte er auch nicht, weil auf der Platte das Büfett aufgebaut war. Er suchte nach dem Onkel aus den USA. Mit dem konnte man wahrscheinlich ganz gut über die Folgen des Vietnamkrieges diskutieren.

      Dr. Lilienblum liebte es, im Gerümpel zu stöbern, ob auf einem Speicher oder hinter der Garage und dem Gerätehäuschen seines Cousins. Plötzlich erblickte er ein vergammeltes Ruderblatt mit Pinne. Er riss es aus dem Gestrüpp und trug es wie eine Fahnenstange zum Grill.

      «Bringst du uns was zum Verfeuern?», rief Ernest Erkenbrecher.

      «Wo denkst du hin! Anbeten sollten wir es wie einen Totempfahl, denn es erinnert mich an meine Karriere im akademischen Ruderverein.» Und er berichtete

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