Ermordet zwischen Sylt und Ostfriesland: 6 Küstenkrimis. Alfred Bekker
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Er sah das Blaulicht schon von weitem. In der normalerweise stillen Wohnstraße standen gleiche mehrere Fahrzeuge hintereinander, die sonst nicht hierher gehörten.
Tjade Winkels sah einen Streifenwagen, das Fahrzeug des Notarztes und zwei weitere Autos, die halb auf dem Bürgersteig standen. In einem davon hatte er früher selbst gesessen, jetzt fuhr vermutlich sein Nachfolger damit spazieren.
Kriminalhauptkommissar Uwe Dröver blickte sich gerade um, als sein Vorgänger an der Gartenpforte auftauchte. Er verdrehte kurz die Augen, verwehrte Winkels aber nicht den Zutritt auf das Grundstück.
Sie begrüßten sich stumm mit einem freundlichen Nicken. Soviel musste sein!
Der Rest der versammelten Truppe hörte von Winkels nur das landesübliche „Moin“, das zu jeder Tageszeit Verwendung fand.
Mit einem raschen Blick überflog er die Situation. Vor der Hauswand lag in seltsam verkrümmter Haltung ein alter Mann, neben ihm eine umgestürzte Leiter, sowie eine kleine Schaufel und ein Eimer voller Unrat.
„Er wollte wohl die Dachrinne reinigen und ist abgestürzt“, erklärte Dröver.
Ein weiterer Mann trat neben Dröver. Er trug ein Klemmbrett in der Hand, auf dem er eifrig geschrieben hatte. Winkels erinnerte sich dunkel, ihn schon mal gesehen zu haben. Auf sein Gedächtnis war schließlich immer noch Verlass. Einer der Ärzte, mit denen er früher zu tun hatte – wenn auch nur in wenigen Fällen mit denen er zutun gehabt hatte.
„Das nehme ich auch an“, ergänzte der Arzt Drövers Aussage. „Dabei hat er sich den Unterarm gebrochen und hatte vor Schreck wahrscheinlich einen Herzstillstand. Das wäre in seinem Alter ja nicht wirklich verwunderlich.“
„Darf ich mich umsehen?“, fragte Winkels.
„Tu dir keinen Zwang an, Tjade. Ich weiß ja, wie sehr dich Todesfälle interessieren, auch wenn es wie hier nur ein ganz normaler Unfall ist.“
Dröver wandte sich wieder an den Arzt, während Winkels ganz vorsichtig an dem Toten vorbei und weiter die Stelle inspizierte, an der die Leiter ursprünglich gestanden hatte. Die Abdrücke der Holme waren im Boden gut zu erkennen, der vom letzten Regen noch leicht feucht war. Er ließ sich auf ein Knie sinken und strich mit der Hand über die Erde. Dabei murmelte er etwas, das keiner der Umstehenden verstand.
Anschließend hob er die Leiter an und studierte den unteren Teil des rechten Holms sehr gründlich, ehe er ihn wieder zu Boden sinken ließ.
Dröver hatte ihm währenddessen mit nachsichtigem Blick zugesehen.
Winkels stemmte sich ächzend hoch und klopfte sich die Erde von der Hose. Es war nur seine alte Cordhose, die er gern zu Hause trug.
„Kein Unfall“, stellte er fest.
Er runzelte die Stirn und sah seinem früheren Stellvertreter in die Augen.
„Das war eindeutig Mord.“
Alle starrten ihn an, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. Dröver brauchte eine Weile, ehe er reagierte. In seinen Augen lag ein spöttischer Ausdruck.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ich zeige es dir.“
Dröver trat neben ihn und musterte die Stelle am Boden, auf die sein Vorgänger deutete.
„Dort stand die Leiter“, erläuterte Winkels. „Die Abdrücke sind deutlich zu erkennen, weil sie ein ganzes Stück in den Boden reichen. Damit hätte die Leiter nicht umfallen können. Neben jedem Loch siehst du eine Furche in der Breite der Leiterholme. Sie führt zur Seite und leicht schräg nach oben.“
Drövers Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Na, und?“
Winkels hob die Leiter erneut an und zeigte auf eine bestimmte Stelle.
„Siehst du das hier?“
Dröver runzelte die Stirn, bis er sich zu einer Antwort durchrang.
„Das ähnelt einem Fußabdruck“, gab er schließlich zu.
Winkels nickte. „Der stark geriffelte Abdruck einer Schuhsohle, die vorher im nassen Boden gestanden hat. Irgendjemand hat die Leiter mit einem kräftigen Tritt gegen den Holm umgestossen, so dass der… wie heißt der Tote noch mal?“
„Papendieck“, antwortete Dröver automatisch. „Wilhelm Papendieck.“
„…so dass Herr Papendieck den Halt verlor als die Leiter kippte und zu Boden stürzte.“
Dröver sah verwirrt aus und stand stocksteif da.
„Ihr solltet jetzt vielleicht eine Mordermittlung einleiten.“
Der ehemalige Hauptkommissar lächelte fein.
Der Arzt sah Winkels mit offenem Mund an., sagte aber nichts.
Dann riss er das oberste Blatt von seinem Klemmbrett ab und ließ es unauffällig in der Tasche verschwinden.
„Wir sollten die Rechtsmedizin verständigen“; sagte er mit leicht brüchig klingender Stimme.
Dröver nickte und zog sein Handy aus der Tasche.
Tjade Winkels grinste fröhlich in die Runde. Das würde jetzt dauern, denn das zuständige rechtsmedizinische Institut befand sich in Emden. Doch das war nicht mehr seine Angelegenheit.
„Einen schönen Tag noch. Ich muss jetzt meinen Hund abholen.“
Als er mit den Händen in den Taschen zur Gartenpforte ging, spürte er förmlich, wie sich Drövers Blicke in seinen Rücken bohrten.
Fröhlich pfiff er vor sich hin.
Er würde noch einen kleinen Umweg machen.
Frau Schrader erwartete ihn schon. Als sie den ehemaligen Kriminalbeamten kommen sah, eilte sie bereits aus der Tür. Harm konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und zerrte an der Leine, so dass Frau Schrader beinahe stolperte.
Der Hund roch schon von weitem, dass Winkels ihm eine Belohnung vom Schlachter mitgebracht hatte und sprang an seinen Beinen hoch.
„Und?“, fragte Frau Schrader und platzte fast vor Neugier. „Was ist mit Papendieck? Was ist passiert?“
„Sie hatten recht“, antwortete Winkels. „Er ist tot.“
Er vermied es, genauere Ausführungen zu machen.
Sie sah ihm sprachlos nach, wie er mit seinem Hund an der Leine die Straße überquerte, seine Haustür aufschloss und in seiner Wohnung verschwand.
Harm war jetzt nicht mehr zu halten, und Winkels ließ das Stück Fleisch in den Fressnapf fallen.