Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger

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postsowjetischen Bedingungen möglicher Freiheit und spannt die Analyse dieser Bedingungen ein zwischen den Polen der Haftung am Vergangenen und dem Streben nach dem Zukünftigen, aber auch zwischen den Polen einer negativen Freiheit der Überwindung von Abhängigkeit und einer positiven Freiheit, sich an neue Ideale und Werte zu binden. Auch wenn diese Pole nicht nur für die Einschätzung der Freiheit in postsowjetischen Ländern maßgeblich sein mögen, so haben sie hier doch eine besondere Bedeutung, zum einen, weil in postsowjetischen Ländern mit eben jenem Vergangenen größtenteils gebrochen worden ist, zum anderen, weil vom Zukünftigen kaum eine Vision besteht und ein verbreiteter Pessimismus und Fatalismus ein anomisches Chaos schafft und jegliche Initiative erstickt. Mkrtchyan betrachtet nun die postsowjetische Situation im Besonderen für das kleine Land Armenien, dessen Befindlichkeit zwischen Krieg und Frieden die Entwicklung von Perspektiven schwächt und viele Menschen zur Emigration bewegt. Die gewünschte Europäisierung des Landes (im Aufbau einer Zivilgesellschaft und demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen) behindern aber auch innere Faktoren, die noch als das Erbe der Sowjetzeit und als die Wunden der Neunzigerjahre identifiziert werden können, von welchen sich einige ehemals sowjetischen Länder außerhalb Russlands bis heute nicht erholt haben.

      Es ist offenbar, dass viele postsowjetischen Gesellschaften für die Anforderungen eines gesellschaftlichen Neuaufbaus schlecht gerüstet scheinen, es fehlt als sozialen Strukturen, die über die Familien- und Clangemeinschaften hinaus hoffnungsvolle Ressourcen der Solidarität schaffen und Keimzellen der bürgerlichen Gesellschaft bilden könnten. Zwischen dem Ganzen der Nation und dem Partikularen der familialen Einheiten liegt ein Vakuum sozialen Engagements, welches auch in den Sinn- und Wertbindungen der Identität der Bürger*innen als ein fehlendes Orientierungspotenzial zu Tage tritt. Es fehlt an einem Bewusstsein sozialer Verantwortung und sozialer Rücksichtnahme, an sozialen Regeln und Prinzipien, an sozialer Engagiertheit aus eigenen Wertbindungen heraus. Es fehlt an rechtlichen Regelungen und mehr noch an der Anerkennung gesetzlicher Vorschriften und am Interesse für den Sinn gesellschaftlicher Normen überhaupt. Der eröffnete „individuelle“ Freiraum verführt zu einer anything goes Haltung, die nicht von Bewusstsein der Verantwortung für das eigene Handeln begrenzt wird. Woher kommt dieser Mangel? Die Gründe hierfür liegen in der Vergangenheit. Sie sind teils schon der sich in der spätsowjetischen Zeit und vollends dann in den Neunzigerjahren sich ausbreitenden Anomie geschuldet, die offenbar nicht nur den wirtschaftlichen und kulturellen Verfall der Sowjetstaaten, sondern auch einen Verfall der Solidarität und sozialen Aufmerksamkeit hervorgebracht hat, dem bis heute nichts entgegengesetzt werden kann. Sie sind aber auch eine Folge der erlebten Armut in den Neunzigerjahren, der Stagnation der Lohnentwicklung, der anhaltenden Abwertung akademischer Berufe und der mangelnden Perspektivität von gebildeten Menschen. Mkrtchyan bezieht seine Analyse hier auf die Anomietheorie von Merton und erklärt die Desorganisation und Regellosigkeit der armenischen Sozialkultur als einen kollektiven Zustand der Ziel-Mittel-Dissonanz, also als eine Folge der Unerreichbarkeit der Wertsymbole mittels der legalen Ressourcen. Zu diesem Zustand gehört die zunehmende Konzentration des Kapitals auf die Oligarchen ebenso wie das Anwachsen der Wirtschaftskriminalität und das Konkurrenzdenken und die Missgunst zwischen den Bürger*innen. Wenn diese Entwicklungen korrigiert werden sollen, so braucht es nicht nur eine Abkehr von Pessimismus und ein neues Bewusstsein des „moralischen Individualismus“ und des Verhältnisses zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Mkrtchyan setzt seine Hoffnung auf das Bildungssystem; denn dies ist der wichtigste gesellschaftliche Ort, an welchem neues Wissen vermittelt und neue Werte erworben werden können. Allerdings setzt dies voraus, dass sich das System von seinen bisherigen autoritären Strukturen und seinem ethnisierenden Propagandaauftrag verabschiedet und die jungen Menschen in bürgerschaftlicher Verantwortung und globalem Denken fördert.

      Bakitbek Maltabarov beschreibt den Zustand des kollektiven Bewusstseins in den ehemaligen Sowjetstaaten als von Spaltungen, Fragmentierung und Widersprüchen geprägt. Paradoxien prägen nicht nur die Gesellschaft und einzelne Gruppen, sondern den Menschen selbst in seiner Persönlichkeit. Sie sind das Erbe einer in sich selbst widersprüchlichen Wirklichkeit der Sowjetgesellschaft und der sukzessiven Unterminierung und letztlich des Zusammenbruchs einer Weltanschauung, die für Generationen den Zusammenhalt von Staat, Gesellschaft und Individuum garantiert hatte, und des Verlustes von Werten und Einstellungen, die offenbar immer weniger in der Lage waren, Perspektiven für die Zukunft zu begründen. Maltabarov zeigt auf, dass die Abkehr von den sozialistischen Werten nicht erst mit der Perestroika erfolgte; vielmehr erodierte schon seit den 80erjahren das sozialistische Fundament der Werte und Einstellungen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Praxis, bis schließlich die Widersprüche zwischen den hochgehaltenen Ansprüchen und der gelebten Wirklichkeit so offenkundig wurden, dass der Zusammenbruch des Systems nicht mehr aufzuhalten war. Auf der Suche nach neuen Formen der Zugehörigkeit spielt seit mehr als dreißig Jahren (wie schon einmal zur Jahrhundert-wende) nicht mehr die politische Ideologie, sondern der ethnisch-nationale Faktor nahezu auf der ganzen Welt eine dominierende Rolle. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war der Griff nach dem Konstrukt der nationalen oder ethnischen Identität der erste und am einfachsten zu etablierende Rettungsakt gegenüber der Gefahr des endgültigen Zerfalls der staatlichen Einheit. Maltabarov spricht von einem „Prozess der Materialisierung von nationaler Eigenart, Nationalwürde und Nationalkultur”, der sich des Rückgriffs auf die Traditionen und Bräuche der Vorfahren bediente, der aber auch Separatismus und Intoleranz beförderte. Die nicht enden wollende schmerzhafte Geschichte des Zerfalls der Sowjetunion ist auch eine Geschichte der Beschwörungen nationaler Identitäten, die im Kern ethnozentrisch bis rassistisch motiviert sind. Maltabarov zeigt eine ganze Reihe von politischen Paradoxien nationaler Identitäten auf, in deren Folge internationale Beziehungen erschwert, wenn nicht zerstört werden, die eigene Wirtschaft ruiniert und Chauvinismus und Rassismus kultiviert werden. Hierzu gehört auch die Paradoxie des neuerlichen religiösen Bewusstseins in Kirgisistan, welches in der Sowjetzeit zwar nicht erloschen, aber doch kaum mehr bemerkbar gewesen war, nun aber – für manche auch aus opportunen Gründen zugunsten politischer oder ökonomischer Vorteile überraschend wiedererweckt – zu einem Symbol der nationalen Geschlossenheit aufblüht. Einer von Maltabarov u. a. durchgeführten Studie ist zu entnehmen, dass eine Mehrheit der kirgisischen Bevölkerung behauptet, durch ihre Eltern im sunnitischen Islam religiös erzogen worden zu sein, während ein Viertel seine ethnische Herkunft für die neue Religiosität verantwortlich macht. Andererseits besuchen dennoch mehr als 70 Prozent der Befragten Moscheen oder andere Orte der Religionsausübung gar nicht oder nur einmal im Monat. Zwischen der behaupteten Religiosität und der praktizierten Religionsausübung besteht also ein gravierender Unterschied. Zugleich sind dieselben Befragten besorgt über die zunehmende Religiosität der Jugend, über die Aktivitäten von Sekten und extremistische Tendenzen im Land. Die Ergebnisse machen deutlich, dass nicht nur ein erheblicher Druck auf identitäre Festlegungen besteht, sondern bei der Suche nach Identität viele Menschen auf eine Einheit aus Religion und Ethnie setzen, die allerdings weder mit der persönlichen Sozialisation noch mit neu gewonnenen Überzeugungen glaubhaft begründet werden kann.

      Mit der Bedeutung von Wertorientierungen für den kulturellen Wandel in postsowjetischen Ländern befasst sich Wolfgang Krieger in gleich zwei Artikeln in diesem Buch. In seinem ersten Beitrag über Wertorientierungen und Wertewandel stellt er auf der Grundlage des World Value Survey von Inglehart und anderen (von 2014 und vorherigen Jahren) Ergebnisse zu verschiedenen postsowjetischen Ländern zusammen und ordnet verschiedene Indikatoren zentralen Parametern des Wertebewusstseins zu. Dem Inglehartschen Konzept von Moderne als eine Sicherheit ausgerichtete und Postmoderne als ein auf individuelle Freiheit hin orientierte Kulturformation folgend werden die untersuchten Werte größtenteils den Rubriken „materialistische“ oder „postmaterialistische Werte“ zugeordnet. In ihrer Kumulation drücken die so systematisierten Wertvariablen auch die Nähe/Ferne zu autokratischen versus demokratischen Gesellschaftsidealen aus. Im Blick sind dabei in erster Linie Werte zu den Bereichen Arbeit, Individualität und soziale Werte, Wirtschaft und Wohlstand, Konformität und Autonomie, Politisches Engagement und Engagement in sozialen Vereinen und Organisationen und Vertrauen und Kommunikationsklima. Die Analyse berücksichtigt nicht nur die auffälligsten Phänomene und Trends, sondern auch einige Differenzen zwischen den Ländern, den Generationen und den Untersuchungszeitpunkten. Auf Basis der Leithypothesen von Inglehart zur Erklärung des

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