Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig
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Alles, was in Raum und Zeit geschah, geschieht und geschehen wird, erlebt das Volk Gottes nicht in kirchlicher Isolation, sondern es teilt alles und jedes dieser Welt „zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit“; zugleich aber erinnern die Konzilsväter an die Verpflichtung der pilgernden Kirche, in dem Geschehenen „die wahren Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“, alles im Glauben mit einem neuen Licht zu erhellen und „auf humane Lösungen hin“ zu orientieren (GS 11). Es widerspräche wohl dem Geist des Konzils, gewisse innerhalb der Menschheit geteilte „Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche“ einfach im Fragenkatalog „der Zeichen der Zeit“ negieren zu wollen. Die Bischöfe des Zweiten Vatikanums sprechen ausdrücklich vom „gegenseitigen Dienst“ des Volkes Gottes und der Menschheit, „der es eingefügt ist“ (GS 11). Von einem Ausschluss eines bestimmten menschlichen Lebensbereichs können und wollen die Konzilsväter nicht sprechen, schon gar nicht vom Ausschluss einer gegenseitigen Beleuchtung artverwandter Kompetenzen25, die für die effiziente und effektive Leitung einer Organisation – ob gesellschaftlich, politisch, sozial oder religiös – vonnöten sind. Somit wird die Erhellung der Kultur einer Organisation, vor allem jener der Kirche, ein „wahre[s] Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“ (GS 11).
„Was denkt die Kirche vom Menschen? Welche Empfehlungen erscheinen zum Aufbau der heutigen Gesellschaft angebracht? Was ist die letzte Bedeutung der menschlichen Tätigkeit in der gesamten Welt?“ (LG 11) Diese Fragen der Synodenväter schließen kirchliche Tätigkeiten nicht aus, sondern beantworten die Fragen kurz für die gesamte Welt, in der die Kirche ihre Sendung erfüllt: Beide stehen in einem unteilbaren und gegenseitigen Dienst (LG 11). In diesem Kontext gilt der Mensch, der Bild Gottes ist, als Mittel- und Höhepunkt in dieser Welt, in der er jedoch seine Aufgaben nur als soziales Wesen erfüllen kann.26
Die Verwundbarkeit des von Gott nach seinem Bild geschaffenen Menschen zeugt davon, dass dieser auf der ihm vom Schöpfergott zur Verfügung gestellten Welt „vom Anfang der Geschichte an“ (GS 13) immer wieder versucht war, seine eigenen Wege zu gehen. Dazu heißt es: „Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von einem guten Schöpfer herkommen können“ (GS 13). Die Konzilsväter weisen auf die Zwiespältigkeit des Menschen hin, die ihn in einem ständigen und dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit fesselt, aus dem er sich selbst nicht als Sieger hervorzugehen weiß. Der Herr ist der, der aus diesem menschlichen Desaster herausführt, das „den Menschen selbst [mindert], weil sie [d.h. die Sünde] ihn hindert, seine Erfüllung zu erlangen“. Diese Worte umfassen „das gesamte Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive“ (GS 13), wie die Bischöfe in diesem grundlegenden Text der Pastoralkonstitution betonen.
Weil die irdische Kirche aber als eine „mit hierarchischen Organen der Gesellschaft“ klar konstituierte „sichtbare Versammlung“ (LG 8) nicht außerhalb der Welt von gestern, heute und morgen existiert, sondern als pilgerndes Volk Gottes immer im Raum dieser Welt, aber nur in den ihr gewährten Äonen unterwegs ist, darf und kann sie sich diesem Kampf zwischen Gut und Böse nicht entzogen glauben. Bleiben die Synodalen des Konzils in diesen Aussagen auch ihrer kirchlichen Sprache treu, wird kaum geleugnet werden können, dass es sich in der Diktion der Organisationswissenschaft bei dieser „sichtbaren Versammlung“ um eine (auch) von Menschen getragene Organisation und bei den „hierarchischen Organen der Gesellschaft“ um deren Führungskräfte handelte.
Nach den Artikeln über den Menschen als Bild Gottes und der Verwundbarkeit dieses Bildes durch die Sünde erinnern die Konzilsväter in diesem einleitenden Kapitel der Pastoralkonstitution nicht nur an die bloße Leiblichkeit des Menschen, sondern an seine Einmaligkeit und in ihr an seine Einheit von Leib und Seele. Die vereinfachende Eingrenzung der Leiblichkeit auf den eigenen Körper und noch zugespitzter auf die körperliche Sexualität des Menschen würden dem Artikel 14 des Konzilstextes nicht gerecht werden. Es geht letztendlich um die gesamte „stoffliche Welt“, die Teil des menschlichen Lebens als solches ist, „wo Gott ihn [den Menschen] erwartet“. Die Herleitung des Lebens von „bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen“ verwehrt dem Menschen ein In-die-Tiefe-Gehen (GS 14). In diesen Spiegel der Erkenntnis des „Wesensstandes des Menschen“, wie dieser Artikel 14 der Pastoralkonstitution (wohl in Klammern gesetzt) überschrieben ist, kann und muss sich auch die irdische Kirche schauen: Die „stoffliche“ Seite des Lebens der Kirche „darf also der Mensch nicht geringachten“. Als getauftes Glied der Kirche verlangt seine Würde als Mensch das Gegenteil – um den Gedanken des Konzils der Bischöfe nicht nur auf die Welt, sondern synonym eben auf „die Kirche in der Welt von heute“ zu richten –, „nicht den bösen Neigungen seines Herzens“ zu dienen, sondern Gott in der „sichtbaren Versammlung“ zu verherrlichen (GS 14).
Der geheimnisvolle Leib Christi der irdischen Kirche darf und kann als geistliche Gemeinschaft aus seinem Wesen heraus nicht auf einen gesunden Leib und auf gesunde hierarchische Organe verzichten; diese machen die stets auf ihrem missionarischen Weg pilgernde Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin erkenntlich und sichtbar. Wenn immer und wo immer die gottgewollte „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, ist sie entweder mit der Illusion einer welt- und somit menschenfremden Esoterik oder aber mit der oft knallharten Versuchung eines wirtschaftlichen Utilitarismus, der ohne Gott auszukommen scheint, konfrontiert.
Es wundert nicht, dass die Konzilsväter diesem Artikel – verkürzt gesagt – über Leib und Seele Worte über die Vernunft des Menschen und „deren Vollendung in der Weisheit“ (GS 15) folgen lassen, geht es doch um einen Gedanken, der dem US-amerikanischen protestantischen Pastor Reinhold Niebuhr zugesprochen wird: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.27 Im letzten geht es in diesem „Gelassenheitsgebet“ mit dem Blick auf die Kirche und ihre göttlichmenschliche Bedingtheit darum, das Göttliche in ihr in Demut hinzunehmen, das Menschliche immer wieder mit Mut und ohne Angst auf seine zeitliche und räumliche Gültigkeit hin zu überprüfen, „und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Das Konzil würdigt die Vernunft des Menschen, in der er „in Teilnahme am Licht des göttlichen Geistes […] die Dingwelt überragt“ und schätzt die menschliche Entwicklung in den empirischen Wissenschaften, der Technik und der geistigen und künstlerischen Bildung (LG 15). Es mag verwundern, dass die Kirche diesen Konzilsgeist bis heute eher selektiv rezipiert hat. So akzeptiert sie ohne weiteres die Erkenntnis der modernen Medizin- und Kommunikationstechnik, solange sie ihren eigenen ethischen Normen nicht entgegenlaufen, verweigert sich jedoch offensichtlich den Fortschritten mancher anderer Wissensgebiete wie etwa des operativen oder strategischen Finanz-Controllings und der Wirtschafts- oder Organisationswissenschaften. Die Würde der menschlichen Vernunft kann auch eine vertiefte Wahrheit ergründen, auch dann, wenn sie aus menschlichem Fehlverhalten teilweise verdunkelt und geschwächt ist