Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten. Группа авторов
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Religiöse Funktionsträger und Nationalismen
Auch hier ist wieder das Thema „Religion und Gewalt“ zu berücksichtigen, da religiöse Funktionsträger zwangsläufig auch in Nationalitätenkonflikten und Kriegen zwischen Nationalstaaten Position beziehen müssen, etwa als Militärseelsorger oder wenn sie in ihren Gemeinden mit der Sinnfrage des Kriegs konfrontiert werden.90
Auch auf die „nationale Frage“ mussten religiöse Eliten als „Multifunktionäre“91 eine adäquate Antwort geben – ein Thema, dem überall in Europa nach der Französischen Revolution eine zentrale Bedeutung zukam.92 Für die Katholiken bedeutete sie eine besondere Herausforderung: Konnten sie loyale Bürger eines Nationalstaats sein, obwohl sie zugleich einer grundsätzlich transnationalen Organisation wie der Catholica angehörten, deren Zentrale aus Sicht der allermeisten Menschen im Ausland, in Rom, lag? Die Nationalisten waren jedenfalls misstrauisch angesichts der „katholischen Internationale“, die mit dem Jesuitenorden über eine weltweit agierende „mobile Eingreiftruppe“ verfügte. Das Problem der doppelten Loyalität verschärfte sich, wenn ein Staat wie etwa das Deutsche Kaiserreich von einer protestantischen Leitkultur dominiert wurde. Katholischen Priestern konnte deswegen bei der Entstehung der liberalen Nationalstaaten die undankbare Rolle zukommen, deren Verfechter in ihrem Antikatholizismus, Antiklerikalismus und Antijesuitismus zu einigen.93 Religiöse und nationale Identitäten konnten aber auch eng miteinander verflochten sein, wie es heute zum Beispiel in Polen und Irland, aber auch in zahlreichen, von orthodoxen Kirchen geprägten Ländern der Fall ist.
Nicht nur Kommunismus und Nationalsozialismus sind als „politische Religionen“ charakterisiert worden.94 Elias Canetti hat in „Masse und Macht“ vorgeschlagen, auch Nationen so zu betrachten „als wären sie Religionen“.95 Dahinter steckt die Überzeugung, dass es zur Konstruktion kollektiver Identität – zur Erfindung der Nation96 – des Bezugs auf gegebene symbolische Bestände bedarf, und dass die Erfinder der Nation „auf religiöse Symbolsprache angewiesen“ sind, um „eine emotional bindende, starke Vergemeinschaftung erzeugen zu können“97. Wenn diese Annahme stimmt, dann kann man mit Friedrich Wilhelm Graf zu Recht fragen: „Welche überkommenen theologischen Gehalte wurden auf den ‚neuen Gott‘ bezogen? Inwieweit lassen sich unterschiedliche Nationskonzepte auch nach ihren impliziten Theologien unterscheiden? Wie ist es zu erklären, dass in vielen europäischen Gesellschaften gerade die Repräsentanten der kirchlichen Institutionen, also die Pfarrer, und akademische Theologen Nationalismen propagierten oder Nationskonzepte entwarfen?“98
An diesem Punkt wird der besondere Charme der longue durée eines Vergleichs deutlich, die es beispielsweise auch erlaubt, Nations- und Konfessionsbildung zusammen in den Blick zu nehmen: Strukturell stehen ja ganz ähnliche Vorgänge zur Diskussion: Hier die Erfindung der Nation und ihre Durchsetzung – dort die Erfindung von Konfessionen und ihre Verkündigung bis in das letzte Dorf. Es wäre zu prüfen, ob und, wenn ja, unter welchen Umständen sich religiöse Funktionsträger ebenso für die Nation in Dienst nehmen ließen wie für ihre jeweilige Konfession.
Das Thema Nation spielte bereits in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle.99 Sahen Protestanten die ideale deutsche Nation primär durch evangelische Traditionen bestimmt – Luthers Bibelübersetzung galt als Urdatum der deutschen Kulturnation –, so entwarfen Katholiken eigene Gründungsmythen und Kriterien guten Deutsch-Seins – etwa durch die Verehrung des Germanenmissionars Bonifatius. Gerade das führte aber im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert vonseiten der Protestanten zum Vorwurf, die Katholiken seien undeutsch, weil sie über Bonifatius versucht hätten, Deutschland der päpstlichen Hegemonie zu unterstellen.100
Vom Summepiskopat des evangelischen Landesherren, der zugleich als oberster Bischof seiner Landeskirche fungierte, zum Oberhaupt eines Nationalstaats von Gottes Gnaden war der Weg in der Tat nicht weit. Wo eine eigenständige Kirchenbehörde wie ein Bischöfliches Ordinariat fehlte, wo der Pfarrer immer schon als Landesbeamter fungierte, war der Übergang zum Agenten eines kulturprotestantisch begründeten Nationalstaats fließend. Für das deutsche Kaiserreich ist evident, dass vor allem evangelische Pfarrer religiöse Symbolbestände benutzten, um den Nationalstaat als gottgewollt auszugeben. Eine Letzthingabe an und eine Totalidentifikation mit dem Nationalstaat brauchten in der Tat religiöse Qualitäten, die zumindest in der Gründungsphase durch Pfarrer vermittelt werden konnten.
Hier wäre genau zu untersuchen, welche Aufgaben an die religiösen Funktionsträger herangetragen wurden, wie sich diese mit ihrem Selbstverständnis vertrugen und welche Rolle sie in Dorf, Stadt, Region und Nation tatsächlich spielten. Während das Thema „evangelischer Klerus und Nation“ bestens erforscht ist, mussten Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche in ihrem großen Sammelband „Nation und Religion in der deutschen Geschichte“ konstatieren, dass „ein Beitrag zum Verhältnis katholischer Klerus und Nation nicht zu gewinnen war“.101 Bei der Behebung dieses Forschungsdesiderats ist einerseits die Frage nach der grundsätzlichen „Nationsfähigkeit“ eines zu einer internationalen Institution gehörenden Amtsträgers zu stellen und andererseits zu differenzieren, ob die dem katholischen Pfarrer gegenüberstehende Nation ebenfalls katholisch, durch eine andere Religionsgemeinschaft geprägt oder religionsfeindlich eingestellt war. Der Katholizismus konnte nationale Identitäten gegen fremde Besatzungsmächte schützen wie in Irland102 oder gegen ideologische Besatzer aus dem eigenen Volk wie in Polen. In Belgien verbündeten sich Katholizismus und Liberalismus, um einen eigenen Staat aus den protestantisch dominierten Niederlanden herauszulösen. In Frankreich stritt man um die Rolle der Kirche zwischen den Alternativen „Thron und Altar“ oder „Katholizismus und Freiheit“. Und in all diesen Auseinandersetzungen waren katholische Pfarrer Hauptagenten.
Auch in Deutschland gerieten der neuentstandene, protestantisch dominierte deutsche Nationalstaat und seine katholische Minderheit mit dem Kulturkampf zunächst in einen heftigen Konflikt. Katholizismus und Moderne, katholische Kirche und moderner Nationalstaat, Glaubensbekenntnis und Grundrechte waren für inkompatibel erklärt worden. Der neue Nationalstaat fürchtete die „katholische Internationale“ und ihre Agenten.103 Deshalb hatten zahlreiche Kulturkampfgesetze vor allem die katholischen Pfarrer im Blick, wie etwa der Kanzelparagraph, das Brotkorbgesetz, die Anzeigepflicht und die Gesetze über wissenschaftliche Vorbildung der Geistlichen zeigen. Die starke Bekämpfung durch den protestantischen Staat trieb die Katholiken noch mehr in die Defensive und erschwerte eine Integration in das neue deutsche Kaiserreich über Jahrzehnte