Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten. Группа авторов
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Anders strukturiert waren Konflikte, in denen religiöse Eliten zur Partei in nationalen Auseinandersetzungen wurden.107 Regionen wie das Baskenland, Elsass-Lothringen und Tirol zogen ihre eigene Identität nicht zuletzt aus sprachlichen Differenzen, besondere Bedeutung kommt dabei dem Begriff der „Heimat“ zu, wie Forschungen zu Südtirol gezeigt haben.108 Nationale und regionale Identitäten bildeten sich aber auch über andere „cleavages“ heraus: den Gegensatz von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie – und zwischen verschiedenen Religionen und Konfessionen oder verschiedenen Fraktionen innerhalb dieser Glaubensgemeinschaften.
Ein gutes Beispiel stellt der von katholischen Pfarrern propagierte baskische Nationalismus dar.109 Hier standen auf beiden Seiten der Front Katholiken, alle drei involvierten Gruppen wollten sich im Katholisch-Sein nicht von den anderen übertreffen lassen: weder die Basken noch die Spanier noch Rom. Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bildete ein Ritenstreit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Baskische Pfarrer kämpften gegen ihre von Zentralspanien eingesetzten Bischöfe für baskische Taufnamen der Kinder und damit für eine eigene nationale Identität. Gleichzeitig wurde von baskischen Katholiken eine neue Gesellschaftsutopie entworfen, das katholische „Euskadi“ als ideale Gesellschaft, als Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, während man das ebenfalls katholische Spanien, welches das Baskenland unterdrückte, als Reich des Teufels ansah. Die ETA wurde am Gedenktag des heiligen Ignatius in einem Jesuitenkolleg gegründet, während andererseits Franco den Basken Ignatius zum Spanier machen wollte.
Interessant dürfte auch ein Blick auf die Reaktionen katholischer und evangelischer Pfarrer in Elsass-Lothringen auf den mehrfachen Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit ihrer Heimat sein.110 Die Protestanten orientierten sich überwiegend am Deutschen Reich, die Katholiken überwiegend an Frankreich, wobei für sie offenbar die konfessionelle vor der nationalen Solidarität stand. Der katholische Klerus wirkte dabei massiv auf das Wahlverhalten der Gläubigen ein.
Völlig anders sah die Lage bis zum Ersten Weltkrieg in Osteuropa aus: Dort gab es keine Nationalstaaten, sondern multinationale Imperien, die religiös heterogen, aber nicht pluralistisch waren. So gehörte ein Großteil der Bevölkerung im Osmanischen Reich der Ostkirche an, aber der Islam war Staatsreligion. Die Orthodoxie war Staatsreligion im Zarenreich, aber diverse nichtrussische Nationen waren muslimisch, katholisch oder protestantisch. Im Habsburgerreich dominierte der Katholizismus, aber unter den Nicht-Titularnationen (Serben, Ukrainern, Rumänen) herrschten die Orthodoxie und die griechisch-katholische Kirche vor. Wie später beim Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens kam der Religion schon nach 1918 eine große Bedeutung für die Festigung nationaler Identitäten zu.
Schon diese wenigen Schlaglichter vermögen die Bedeutung religiöser Eliten im Allgemeinen und katholischer Priester im Besonderen für die Genese der europäischen Nationen und Europas anzudeuten. Die Frage nach den Ursprüngen der europäischen Identität stellt sich angesichts der aktuellen „Eurokrise“ drängender denn je. Um sie zu beantworten, muss aber auch die Geschichtsschreibung ihre nationalen und konfessionellen Fixierungen überwinden.
1 C. v. Bolanden, Der Preßkaplan. Erzählung für das Volk, Mainz 61890, 61f.; zitiert auch bei O. Blaschke, Die Kolonialisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager und die Kanäle klerikaler Kuratel, in: ders. / Kuhlemann, F.-M. (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen (Religiöse Kulturen der Moderne 2), Gütersloh 1996, 93-135, hier 100f.
2 Bolanden war ein Pseudonym des katholischen Priesters und Päpstlichen Geheimkämmerers Joseph Eduard Konrad Bischoff, vgl. Saarländische Biographien, online unter: <http://www.saarlandbiografien.de/Bischoff-Joseph-Eduard-Konrad> (letzter Aufruf: 26. November 2012).
3 Zur sozialdisziplinierenden Rolle des katholischen Klerus im Zuge der katholischen Konfessionalisierung vgl. W. Reinhard / H. Schilling, (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993 (RGST 135), Münster 1995. Zum Amtscharisma und zu seiner Funktion vgl. auch T. Schulte-Umberg, Profession und Charisma. Herkunft und Ausbildung des Klerus im Bistum Münster 1776-1940 (VKZG.F 85), Paderborn 1999.
4 Vgl. C. Weber, „Eine starke, enggeschlossene Phalanx“. Der politische Katholizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871 (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 35), Essen 1992.
5 Vgl. O. Blaschke, Kolonialisierung; M. Klöcker, Katholisch – von der Wiege bis zur Bahre. Eine Lebensmacht im Zerfall? München 1991.
6 Vgl. F. W. Graf / K. Große Kracht, Einleitung: Religion und Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in: dies., Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert (Industrielle Welt 73), Köln u.a. 2007, 1-42; H. Kaelble, Europäische Identitäten, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 13 (2012) 141-146; D. Levering Lewis, God’s Crucible: Islam and the Making of Europe, 570 to 1215, New York 2008.
7 P. d. Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012.
8 A. Holzem, Deutsche Katholiken zwischen Nation und Europa 1870-1970. Europa- und Abendland-Perspektiven in Kulturdebatten und gesellschaftlicher Praxis im Spiegel jüngerer Publikationen, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 9 (2008) 3-29; A. Langner (Hg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985.
9 Vgl. M. Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, insbesondere die Kapitel über „Papstkirche und universale Orden“, „Kreuzzüge und Protokolonialismus“ sowie „Predigt und Buchdruck“, aber auch die Ausführungen über die Eucharistieverehrung als „Schlüsselfaktor“ des europäischen Sonderwegs (287-292).