Die Naturforschenden. Группа авторов

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regelmässig Spitzenplätze. Auch die Industrieforschung gilt als äusserst wettbewerbsfähig. Gerade die Beiträge aus den Naturwissenschaften und der Medizin werden überdurchschnittlich häufig zitiert und international ausgezeichnet. Die Liste der Nobelpreisträger für Physik, Chemie und Medizin weist darauf hin, dass dies kein neues Phänomen ist. Über 20 Forscher aus der Schweiz bedachte das Stockholmer Nobelpreiskomitee seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit dieser höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung.1 Doch die Spuren einer schweizerischen Wissenschaftsnation reichen noch weiter zurück. Bereits 1873 stellte der Genfer Botaniker und Wissenschaftshistoriker Alphonse de Candolle fest, dass Schweizer Naturforscher im internationalen Vergleich eine aussergewöhnliche Präsenz aufwiesen. Lange bevor internationale Rankings in Mode kamen, wendete de Candolle eine quantitative Methode an, um die Güte von Wissenschaftsstandorten bestimmen und vergleichen zu können. Er wertete die Listen der Ehrenmitglieder der traditionsreichsten und renommiertesten wissenschaftlichen Akademien – der französischen Académie des Sciences, der britischen Royal Society und der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin – aus. Seine Analyse zeigte, dass Schweizer Forscher bereits seit dem 17. Jahrhundert überdurchschnittlich oft zu Ehrenmitgliedern dieser drei Vereinigungen ernannt worden waren. Damit nicht genug: Sobald er die Ernennungen mit der Bevölkerungszahl gewichtete, kam die Schweiz gar unangefochten an die Spitze seines Länderrankings zu stehen.2

      Der internationale Erfolg ist das Aushängeschild des schweizerischen Forschungsstandorts. Es handelt sich dabei aber nur um einen kleinen Ausschnitt einer grösseren Geschichte. Denn seit den Anfängen der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert umfasste das Naturstudium in der Schweiz stets eine grössere Gruppe von Personen, die meisten davon sogenannte «Liebhaber» – also Amateure in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs. Dazu zählten im Verlauf der Jahrhunderte Magistraten, Patrizier und Pfarrer, Ärzte, Lehrer und Militärpersonen, höhere Angestellte, Beamte und Industrielle. Naturforschung in der Schweiz beruhte auf einer breiten gesellschaftlichen Bewegung, was sich unter anderem darin zeigte, dass zwischen 1600 und 1800 nicht weniger als 150 sogenannte Gelehrte Gesellschaften gegründet wurden, in denen sich die grosse Mehrheit der Amateure mit den wenigen spezialisierten Forschern austauschten.3 Mit der Naturforschenden Gesellschaft der Schweiz (SNG, heute Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT) entstand im Jahr 1815 die erste nationale Vereinigung der Naturforschenden. Sie umfasst bis heute zahlreiche kantonale Sektionen sowie disziplinäre Fachgesellschaften wie etwa die Schweizerische Entomologische Gesellschaft (die Gesellschaft der Insektenkundler) mit ihren eigenen kantonalen Zweigen. In diesem weitverzweigten Vereinsnetzwerk haben sich bis heute ungezählte Naturforschende aus professionellen oder privaten Interessen heraus engagiert.4 Bis ins späte 19. Jahrhundert war die Mitgliedschaft in einer Gelehrten Gesellschaft freilich ein exklusiv männliches Privileg. Die Gesellschaften waren zudem vorwiegend in den protestantischen Mittellandkantonen verankert. Es darf jedoch davon ausgegangen werden, dass Ehefrauen, Töchter und Schwestern sich ebenso wie die Bewohnerinnen und Bewohner der alpinen Regionen am Studium der «vaterländischen Natur» beteiligten.5 Sei es als lokale Führer für Schmetterlingssammler aus dem Flachland oder beim Bestimmen und korrekten Aufbewahren gesammelter Pflanzen im Studierzimmer eines Ärzte-, Lehrer- oder Pfarrerhaushalts.

      Es darf also mit Fug behauptet werden: Die Schweiz ist ein Land der Naturforschenden. Nur ist sie sich dessen nicht bewusst. Historische Darstellungen, welche dieses Phänomen zu fassen und erklären versuchen, sind rar.6 An dieser Lücke setzt das vorliegende Buch an. Es erzählt 15 Geschichten zum Wissenschaftsstandort Schweiz. Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge sind Figuren aus der schweizerischen Naturwissenschaftsgeschichte: bekannte, weniger bekannte und auch solche, die selbst den Fachhistorikerinnen und Wissenschaftsforschern unbekannt sein dürften. Die Autorinnen und Autoren dieses Buchs haben wir gebeten, die Geschichten dieser Personen nicht als klassische Biografien zu erzählen. Wir haben sie vielmehr zu einem Vorgehen ermuntert, das vorab im angloamerikanischen Sprachraum weitverbreitet ist: nämlich Personen als Instrumente oder Sonden zu benutzen, um jene historischen Zeitabschnitte auszuleuchten, in denen diese Personen gelebt, gehandelt und gedacht haben.7 Auf diese Weise werden die weiteren Kontexte der Wissenschaft sichtbar. So etwa die Rolle wissenschaftlicher Netzwerke und Institutionen, aber auch die Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Vorstellungen und Praktiken. Erkennbar wird auch, wie sich gesellschaftliche Hierarchien namentlich entlang sozialer, geschlechtlicher und «rassischer» Grenzen in der Naturforschung niederschlugen respektive inwiefern Naturforschende aus der Schweiz ihre Forschung nutzten, um solche Hierarchien zu kritisieren oder zu stabilisieren, und damit die Gesellschaft in der Schweiz formten. Schliesslich geht es aber auch um die Beziehungen, die schweizerische Naturforschende aus unterschiedlichsten Motiven zu Menschen inner- und ausserhalb der Schweiz und Europas aufbauten. Unsere Perspektive taucht die geschilderten Personen in ein eher ungewohntes Licht. Vermeintlich wohlbekannte historische Persönlichkeiten (wie Louis Agassiz oder Albert Einstein) werden neu beleuchtet, und bislang vernachlässigte Figuren (wie Clémence Royer oder Boukary Porgo) verlassen ihr Rand- oder Nichtdasein und werden in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Naturwissenschaften in der Schweiz sichtbar.

      Der Fokus auf die Bedingungen der Zeitabschnitte, in denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewegten, erlaubt es uns, nach der Bedeutung des Schweizerischen und allgemeiner des Nationalen für die Produktion wissenschaftlichen Wissens zu fragen. Was machte den Wissenschaftsstandort Schweiz aus, und wie präsentierte er sich zu unterschiedlichen Zeiten? Inspirierte, beförderte oder behinderte das Schweizerische oder das Nationale die Forschungsanstrengungen? Und umgekehrt: Wie beeinflusste die gesellschaftlich starke Naturforschung die Schweiz? Worin bestand dieses Schweizerische: in den sozialen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verhältnissen des Landes oder in einer spezifischen schweizerischen Identität beziehungsweise einem nationalen Image? Und wie vertrugen sich politische Grenzziehungen mit dem wissenschaftlichen Credo des freien Ideenaustauschs, wie nationale Organisationsweisen mit wissenschaftlichen Universalitätsansprüchen?

      Die 15 in diesem Band versammelten Texte ergeben keine umfassende oder repräsentative Geschichte des Wissenschaftsstandorts, sondern sind Erkundungen in einem weiten und in vielen Teilen noch unbekannten Terrain. Die Autorinnen und Autoren bewegen sich an den Grenzen des historisch Bekannten und verschieben diese Grenzen. Sie thematisieren relevante historische Zusammenhänge und fördern eine erstaunliche historische Vielfalt zutage, und zwar sowohl jeder Beitrag in sich als auch, verstärkt, in ihrer Gesamtheit. So entsteht beim Lesen das wenig vertraute Bild einer Schweiz als eines Landes von Naturforschenden, einer global vernetzten Nation, die sich nicht nur über die politischen und wirtschaftlichen, sondern auch über die wissenschaftlichen Aktivitäten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zu definieren lernte.

      TOBIAS KRÜGER

      EISZEIT

      Jean de Charpentier als tragischer Wegbereiter einer wissenschaftlichen Umwälzung

      Dass grosse Bereiche Europas während der Eiszeiten mit Gletschern bedeckt waren, gehört heute faktisch zur Allgemeinbildung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dieser Gedanke hingegen gänzlich unbekannt. Eine der Personen, die bei der Entdeckung und Erforschung der Eiszeiten eine massgebliche Rolle spielte, war Jean de Charpentier (1786–1855). Seine Beteiligung an einer der umwälzendsten geologischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, aber auch die damit verbundene persönliche Tragik sollen hier dargestellt werden.

      Der Name lässt zunächst einen Westschweizer oder Franzosen vermuten. Tatsächlich stammte de Charpentier jedoch aus Sachsen. Seinen französischen Namen verdankte er der Herkunft seiner Familie aus der Normandie. Seine Vorfahren waren einst vermutlich als protestantische Glaubensflüchtlinge nach Sachsen gelangt. Jean de Charpentier kam im erzgebirgischen Städtchen Freiberg als jüngstes von sieben Kindern zur Welt. Sein Vater war Professor an der dortigen Bergbauakademie und erstellte unter anderem 1778 eine der ersten modernen geologischen Karten weltweit.1 Auf ihr kennzeichnete er Gesteinsarten mit unterschiedlichen Farben, was damals eine Innovation darstellte. 1802 stieg Jeans Vater zum Berghauptmann

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