Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов

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Praktische Theologie in der Spätmoderne - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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bzw. invisibilisiert wird. […] Der Beobachter setzt seine Beobachtungsoperationen dadurch fort, dass er die der Beobachtung zugrundeliegende Paradoxie ausblendet. […] Ein weiterer Beobachter dieses Beobachters, ein Beobachter zweiter Ordnung also, kann […] die zugrundeliegende Paradoxie und damit die entsprechende Technik der Entparadoxierung beobachten.“338

      Damit stehen wir an einem Übergang vom soziologischen zum theologischen Diskurs bzw. zu Luhmanns erklärtem Lieblingstheologen: „Fragt man nach Vorfahren dieses Konzepts, muss man […] in der Theologie suchen. Für Nikolaus von Kues etwa trug die Einheit, […] die sogar die Unterscheidung von Unterschiedensein und Nichtunterschiedensein transzendiert, den Namen Gott.“339

       4. Theologische Paradoxien

      Am Cusaner faszinierte Luhmann vor allem dessen „Gottesbegriff jenseits aller Unterscheidungen“340: die coincidentia oppositorum als Einheitsgrund aller Gegensätze, dem auf Seiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit eine paradoxe docta ignorantia entspricht. Nikolaus von Kues selbst spricht in nichtaffirmativer Doppelnegation vom Non aliud, von einem „Nichtanderen“341:

      „Sein Gottesbegriff liegt […] jenseits der Unterscheidung des Unterschiedenen und des Nichtunterschiedenen. […] Die Unterscheidung selbst muss […] als das Nicht-Andere des Unterschiedenen begriffen werden. Sofern das Unterschiedene an der Unterscheidung teilnimmt, ist es nicht anders als das jeweils andere. Das non-aliud ist für Nikolaus das Absolute.“342

      Michel de Certeau berührt diesen Bereich des Absoluten mit der sprachlichen Wendung „weder … noch“343: Gott ist weder der Unterschiedene noch ist er der Nichtunterschiedene. Dem entspricht die letzte Stufe jenes „Tetralemmas“344 theologischer Sprachmöglichkeiten, dessen Eckpunkte Nikolaus folgendermaßen umschreibt: „Es ist […] in höchster Weise wahr, dass das schlechthin Größte [also theologisch: Gott, Ch. B.] ist (esse) oder nicht ist (vel non esse) oder ist und nicht ist (vel esse et non esse) oder weder ist noch nicht ist (vel nec esse nec non esse).“345

      Unter Bezugnahme auf spätmoderne Franzosen wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Michel de Certeau interessiert Luhmann sich vor diesem Hintergrund auch für die Paradoxien mystischer Sprachformen, die den Gottesdiskurs nicht nur prinzipiell unruhig halten, sondern auch dessen binnentheologisch zwar „eher marginale“346, erkenntnistheoretisch jedoch „wohl anspruchsvollste Lösung“347 darstellen:

      „Alles Unterscheiden wird in Existenz aufgehoben, freilich nur im Moment. Die darin liegende Gewissheit lässt sich nicht unterscheiden, also auch nicht überbieten – aber eben deshalb auch nicht mitteilen […]: die komplizierte Struktur des Beobachtens zweiter Ordnung dient zur Ausarbeitung der Kontingenzformel Gott. […] Der Kernpunkt der Inkommunikabilität nimmt […] die Form eines Paradoxes an. Letzte Einsichten können nur in dieser Form kommuniziert werden. Das ist speziell auf Beobachter zweiter Ordnung zugeschnitten: auf Beobachter, die das Beobachten Gottes zu beobachten suchen. Sie trifft also vor allem den Teufel und die Theologen.“348

       Radikalisierte Kontingenz

      Michael Scherer-Rath

      Die Auseinandersetzung mit der Kontingenzproblematik ist seit der Antike ein Stachel für das Selbstverständnis des Menschen in Geschichte und Gesellschaft. Schon Aristoteles hat die Frage nach dem Möglichen und Nicht-Selbstverständlichen gegenüber dem Wirklichen gestellt. Diese Frage hat sich in der Spätmoderne radikalisiert. Kontingenz fungiert hier in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als Theorem, das zur Kennzeichnung aktueller und noch unverstandener Veränderungsprozesse und als Fokus theoretischer Reflexion angewandt wird. Im Folgenden soll (1.) das Bewusstsein des kontingenten Handlungsspielraums als spätmoderne Signatur der Kontingenzorientierung beschrieben werden, die (2.) auf den verschiedenen Erfahrungsebenen des Alltags konkretisiert und (3.) auf ihre praktisch-theologische Relevanz durchleuchtet werden kann.

       1. Menschen zwischen Orientierungslosigkeit und Möglichkeitssinn

      Der Mensch ist als instinktarmes Wesen immer auf der Suche nach Ordnung und Sicherheit, damit er sich in seiner Lebenswelt bewegen kann. Menschen versuchen darum, im Alltag das, was sie denken zu sein, und das, was ihnen widerfährt, miteinander in Einklang zu bringen. In der Regel haben sich viele Prozesse, Handlungen und Abläufe verselbständigt.349 Das ist auch notwendig, basiert doch das gesellschaftliche Miteinander auf der Voraussetzung menschlichen Vertrauens in die Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit menschlicher Handlungen, Überzeugungen, Ziele und Sehnsüchte. Bis weit in die Neuzeit hatte der religiöse und politische Kosmos den Stellenwert einer absoluten Notwendigkeit, in der es nur einen geringen Spielraum für Kontingenzen gab.350 In der Tradition des Aristoteles kann Kontingenz als etwas umschrieben werden, das nicht notwendig und nicht unmöglich ist. Etwas, das auch anders hätte sein können.351 Bis zur Moderne gab es aber kaum Spielraum für mögliches Anderssein, da das Kontingente im absoluten Grund einer Letztursache aufgehoben war, was oftmals einer Kontingenzreduktion gleichkam. Wer metaphysisch denkt, beseitigt die Kontingenz. Wer nachmetaphysisch denkt, erzeugt Kontingenz.352

      Die neuzeitliche Moderne zeichnete sich durch Kontingenzsteigerung aus. Die Technisierung und Entwicklung in den Wissenschaften führt zu einer Divergenz von Erfahrung und Erwartung.353 Die Möglichkeiten menschlicher Vorstellungskraft und der Erfindungsreichtum ließen die Erfahrungswelt weit hinter sich. Hatten bis dato neue Erfahrungen zu neuen Lernschritten geführt, brachte die menschliche Vorstellungskraft Erfindungen hervor, die den bisherigen menschlichen Erfahrungsbereich weit überschritten. Kontingenzsteigerung war die Folge. Nichts schien dem Menschen mehr unmöglich zu sein. Kontingenzsteigerung fungierte fortan als Kontingenznutzung, um die Kontingenz letztendlich zu begrenzen. Die entscheidende Veränderung bestand jedoch in der Durchdringung des menschlichen Denk- und Handlungshorizonts durch die Kontingenz. Ging man in der antiken Auseinandersetzung damit noch davon aus, dass nur Ereignisse kontingent waren, nicht aber Ereignishorizonte, in denen Handlungen vollzogen wurden oder als Zufälle eintraten,354 so gelten in der Spätmoderne auch die Handlungsbereiche des Menschen als kontingent. Das hat zur Folge, dass der Mensch nur noch über kontingente Handlungsbereiche verfügt, die ihm keine unerschütterliche Sicherheit mehr bieten.

      In der Spätmoderne wird das Drama der Moderne problematisiert, indem das zunehmende Bewusstsein für Kontingenz als moderne Erfahrung der Tragik erlebt wird: Um im Alltag handlungsfähig zu bleiben, besteht die Notwendigkeit der Eingrenzung von Kontingenzen, wobei hierdurch wieder neue Kontingenzen erzeugt werden. Lebensentwürfe werden vor diesem Hintergrund zu Lebensversuchen unter dem Vorbehalt der stetigen Kontingenzorientierung.

      Kontingenz darf aber nicht nur als Bedrohung von Ordnungs- und Handlungsrahmen, sondern sollte vielmehr als Bedingung von Möglichkeiten verstanden werden. Kontingenz ist eine Bedingung für Kreativität. Ohne Handlungskontingenz gäbe es keine Spielräume für eigenes kreatives Handeln. Alles würde nach notwendigen Folgeschritten verlaufen.355 Was hier so positiv klingt, wird in der Alltagsrealität von vielen Menschen als bedrohlich erfahren. Zum einen brechen viele lieb gewonnene Lebensräume weg. Familien, Gruppen, Kirchen, Vereine, Parteien und viele andere soziale Lebensverbände verlieren ihre selbstverständliche Bindungs- und Geltungskraft.356 Die neu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten werden als Gefahr erfahren. Die Individualisierung der Gesellschaften bringt eine Erosion der Handlungssicherheit mit sich. Langfristige Lebensentwürfe sind vor diesem Hintergrund nicht mehr gegeben.357 Mehr als eine zeitlich begrenzt gültige Festlegung eines Projektrahmens im Sinne einer Bearbeitung des Kontingenten erscheint nicht möglich.

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