Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов

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Praktische Theologie in der Spätmoderne - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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Lebens scheinbar begrenzen, ob es nun um den Zölibat oder die dauerhafte Übernahme von Pflege- und Versorgungstätigkeiten für einen chronisch Kranken geht. Projektmäßige Lebensführung impliziert gerade eine prinzipielle Offenheit, die jede Festlegung vorläufig und veränderbar erscheinen lässt. Der Lebensentwurf soll so viele Optionen wie möglich beinhalten. „Project identity […] refers to the capacity of human subjects to envision different and alternative futures.“264 Alles wäre auch anders möglich bzw. sollte anders möglich sein.

       2. Illusion der Freiheit – Erfahrung der Fremdbestimmung

      Während die auf dem Individualisierungstheorem beruhende Perspektive die Freisetzung des Individuums aus traditionalen und soziostrukturellen Vorgaben betont, wird von anderer Seite kritisch gefragt, ob die Enttraditionalisierung tatsächlich zu mehr Autonomie geführt hat. Der emanzipatorische Impetus der Individualisierung entpuppt sich als ambivalent. Wer sein Leben als Projekt führt, wird dadurch nicht schon autonomer. Denn die Lebensführung unterliegt in der Spätmoderne neuen Zwängen, etwa denen des Mediengebrauchs, dem Primat der Erwerbsarbeit, den Konsumansprüchen oder dem Gesundheitspostulat. Es finden heute also paradoxerweise „gleichzeitig standardisierende und destandardisierende Prozesse statt“265. Ungekannte Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten treffen auf neue Einschränkungen.

      Diese drücken sich nicht nur als äußerer Zwang aus. Vielmehr internalisieren die Individuen die homogenisierenden Vorgaben der Sozialwelt. Die Verinnerlichung der Affekt- und Handlungskontrolle, die gesellschaftlich erwünscht und ökonomisch nützlich ist, wirkt als Selbstzwangapparatur.266 Der Individualisierungsprozess führt darum nicht nur zu einem Mehr an Entscheidungsfreiheit, sondern auch zu einer Destabilisierung der Idee einer mit sich selbst identischen Persönlichkeit: Deren vermeintliche Autonomie droht sich auf kluge Umweltassimilation zu beschränken.267

      Das Element der subtilen Fremdbestimmung kann auch und gerade in spätmodernen Gesellschaften nicht geleugnet werden. Zwänge der Arbeitswelt, soziale Geschlechterkonstruktionen, prägende Vorgaben der Massenmedien, staatliche Normierungen etc. greifen tief in das Leben der Einzelnen ein. Umgekehrt entziehen sie sich weitgehend deren Zugriff. Die Betrachtung des Lebens als Projekt ist nur realitätsnah, wenn damit nicht nur besonders originelle und nonkonformistische Formen gemeint sind. Sie muss neben dem Original auch „das inszenierte Originäre wie auch das gewählte Standardisierte des ‚eigenen‘ Lebens gleichermaßen“268 umfassen bzw. die fließenden Grenzen zwischen diesen Formen.

       3. Grenzen der Freiheit – Erfahrung der Kontingenz

      Das Leben als Projekt aufzufassen, erinnert an die Sprache der Bauplanung. Selbst bei geschickter Konzeption ist aber mit dem Unplanbaren und Ungeahnten zu rechnen.269 Dies gilt umso mehr mit Blick auf die Biographie. Es kann viel ‚dazwischenkommen‘ wie Krankheit oder Behinderung, Arbeitslosigkeit oder Beziehungsabbruch, der Tod geliebter Menschen. Umgekehrt gibt es unerwartete Glücksfälle, wie hilfreiche und schöne Begegnungen oder unverdiente Möglichkeiten.

      Die Kontingenz des Lebens bleibt also bestehen, auch wenn man es als Projekt auffasst. Dies durchkreuzt die Idee der Planbarkeit, die dem Projektgedanken zugrunde liegt. Kontingenzerfahrungen brechen Lebensprojekte – manchmal gewaltsam – auf und ab, sie eröffnen aber auch neue Chancen. Auch in dieser Hinsicht erscheint die Autonomie des Individuums als „eine optimistische Illusion“, wenn nicht gar als „ein Ideologem“270. Das Leben ist offenbar weniger ein Gesamtkunstwerk, das das Individuum selber gestaltet, als vielmehr eine Reise ohne Reiseleitung, Kartenmaterial und fertiges Konzept.

      Der Projektgedanke lässt die Verfügung des Menschen über sein Leben dagegen absolut erscheinen. Entsprechend wird der maßgebende Einfluss von Kontingenzen geleugnet. Der Mensch soll nicht durch Zufälle, sondern durch seine bewussten Entscheidungen bestimmt sein. Er soll möglichst ausschließlich das Resultat seiner Absichten sein. Realistischer ist aber wohl die umgekehrte Sichtweise: „Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.“271

       4. ‚Leben als Projekt‘ im praktisch-theologischen Diskurs

      Das Leben als ein Projekt zu bezeichnen, erscheint vor dem Hintergrund dieser Überlegungen als fragwürdig, wenn nicht gar als zynisch: Angesichts der Verunsicherung durch die Freiheit, des Illusionären der Freiheit und ihrer faktischen Grenzen ist diese Betrachtungsweise einseitig und tendenziell schädlich. Dennoch haben wir in den Lebensprojekten der Spätmoderne „keine andere Wahl, als zu wählen“272. Es gibt keine Alternative dazu, sein Leben selbst zu organisieren und zu verantworten. Das Projekthafte des Lebens bleibt somit Ideal, Lust und Last.

      Entsprechend ist eine reflexive Art der Lebensführung gefragt. Sie kreist um die Frage, wie wir nach dem Ende der selbstverständlichen Herrschaft von Natur, Sozialwelt und Tradition angesichts einer Fülle von Informationen und Optionen leben sollen. Die Menschen der Spätmoderne zu einer reflektierten und eigenverantwortlichen Lebensführung zu ermächtigen, ihnen bei ihrer Ausformung vom Evangelium her kritisch beizustehen und die Verhinderung von Lebensmöglichkeiten für alle prophetisch zu bekämpfen, sind wichtige Aufgaben einer zeitgemäßen Pastoral.

      Auch die praktisch-theologische Reflexion kann an den genannten Beobachtungen nicht vorbeigehen. Zu Recht gehört die Biographie zu den „key concepts, which more recently have found wide acceptance in practical theology“273. Praktische Theologinnen und Theologen werden daher kritisch analysieren, inwiefern Kirche und Pastoral den Menschen bei der Lust und Last ihres Lebensprojekts hilfreich sind. Denn es gerät „die Selbstthematisierung, Selbstreflexion, Selbstvergewisserung – die Frage nach der persönlichen Identität – zunehmend zum zentralen religiösen Thema“274. Für den praktisch-theologischen Diskurs ist zu fragen, ob und wie die Ambivalenzen eines Lebens als Projekt in den Blick kommen und inwiefern er einen Beitrag zur Ermächtigung zu einer Lebensführung leistet, die ebenso situationsgerecht wie evangeliumsgemäß ist.

       Multiperspektivität

      Renate Wieser

       1. Die immer schon multiperspektivische Rede von Gott

      „Theology that is not written as a life told four

      ways already departs from the most authoritative

      model for Christian writing.“275

      Das obige Zitat verweist auf das Faktum, dass das Christentum schon in seinen Anfängen keineswegs eine monoperspektivische Religion war, ist ihm doch die Multiperspektivität und Pluralität der Zugänge in seine Genese und Grundlagen zutiefst eingeschrieben: In vier Versionen wird uns das Wirken eines jüdischen Messias überliefert, den die frühe, bereits die jüdischen Grenzen überschreitende Kirche bald als zweite Person des trinitarisch gedachten Gottes bekannte – inkarniert und damit unausweichlich kontextuell und unhintergehbar situativ „im Fleisch“, ganz Mensch und ganz Gott.

      Es brauchte in der Folge nicht unerhebliche diskursive und nicht-diskursive Machtmittel, um diese in der leiblichen Vielfalt und kontextuellen Situiertheit des Lebens und Glaubens wurzelnden Anfänge durch das stillzustellen, was Laurel C. Schneider in ihrem Versuch, eine theology of multiplicity zu denken, the logic of the One nennt – ein geschlossenes System ohne Platz für Ambiguitäten, Öffnungen, Unfertiges und Unverstandenes, ein System vermeintlich ohne Brüche und Spalten, ohne Anderes und Fremdes seiner selbst, ein System, in dem Gott als das Synonym für das Eine, das Unteilbare,

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