Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов

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Praktische Theologie in der Spätmoderne - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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„von der Differenz zwischen Frauen über die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht bis zur Verschränkung unterschiedlicher Ungleichheitsdimensionen – von der Mehrfachunterdrückung Schwarzer US-Amerikanerinnen zur ‚multiplen Positioniertheit‘ […] aller Menschen.“245 Über die Herausforderung, der multiplen Positioniertheit aller Menschen Rechnung zu tragen, hinaus zeichnet sich derzeit auch noch eine weitere Komplexitätssteigerung ab:

      „denn aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die häufig mit Schlagwörtern wie Neoliberalismus, Informationsgesellschaft, Gentechnologie, Globalisierung etc. umschrieben werden, verändern nicht allein Konzepte von Geschlecht, Ethnizität oder Klasse […], sondern generieren womöglich neue Formen von sozialer Ungleichheit. […] Folglich stehen intersektionale Analysen vor der Herausforderung, die komplexe Gleichzeitigkeit von Wandel und Beharrungsvermögen sozialer Ungleichheitsverhältnisse an der Schwelle zum 21. Jahrhundert auszuloten.“246

      Entgegen der Aufmerksamkeit im wissenschaftlichen Diskurs für die Reflexion auf die vielfältigen Differenzierungskategorien in ihren Verflechtungen und mit ihren ungleichheitsgenerierenden Effekten ist in der Gesellschaft – wohl in hohem Ausmaß als Reaktion auf die zunehmende Komplexität, verstärkt aber auch durch Strukturen, die nach wie vor die traditionelle Rollenaufteilung fördern – verschiedentlich eine Rückkehr zu stereotypen und essenzialistischen Geschlechtervorstellungen festzustellen.247 Winker/Degele dazu:

      „Auf der Grundlage hierarchisierter Differenzkategorien konstruieren Individuen nicht nur unterschiedlichste Identitäten, sondern reproduzieren gleichzeitig hegemoniale symbolische Repräsentationen und hierarchisierte materialisierte Strukturen. Geschieht dies unter Rückgriff auf Naturalisierungen, dockt dies ebenso an vermeintlich sicheres wissenschaftliches wie auch an Alltagswissen an, verleiht Identitäten, Strukturen und Repräsentationen zusätzliche Glaubwürdigkeit und festigt letztlich die Reproduktion des Gesamtsystems.“248

      Das Intersektionalitätskonzept überwindet die Frage nach einer einzigen Masterkategorie, indem es kein Herrschaftsverhältnis als dominant voraussetzt, sondern auf Verwobenheiten fokussiert und dementsprechend theoretisch wie methodologisch vielfältigste Differenzkategorien einbezieht – ohne dabei jedoch die Bedeutung der Kategorie Geschlecht zu reduzieren.249 Denn so sehr das Konzept der Intersektionalität einerseits an den Grenzen „traditioneller“ Genderforschung operiert, so ist andererseits doch beachtenswert, dass die Mehrzahl der VertreterInnen des Intersektionalitätskonzepts von der Genderforschung aus argumentiert und von daher Gender eine in den Analysen immer in Betracht gezogene Kategorie darstellt.250 Dieses Faktum zeigt,

      „dass intersektionale Perspektiven zwar Geschlecht nicht als Masterkategorie setzen, sondern gleichwertig mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit analysieren, aber dennoch mit einem normativen commitment […] bezüglich feministischer Theorietraditionen bzw. Theoriebildung einhergehen. Folglich will Intersektionalitätsforschung nicht Geschlechterforschung ersetzen, sondern diese bereichern.“251

      Aktuell müssen wegen der Verzahnung von sozialen Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen und entlang unterschiedlicher Kategorien auch die Widerstandsformen gegen ungerechte Systeme und Strukturen angepasst und erweitert werden. Dabei kann aber durchaus wieder an Traditionen des Feminismus angeknüpft werden, „in denen emanzipatorische Bewegungen mit einem Fokus auf die Kategorie Geschlecht die Aufhebung aller Unterdrückungsstrukturen und Marginalisierungsmechanismen zum Ziel haben.“252

       Leben als Projekt

      Wolfgang Fritzen / Stefan Gärtner

      Das Leben der Einzelnen wird seit der Moderne zunehmend aus den scheinbar schicksalhaft feststehenden Vorgaben von Sozialstruktur und Tradition freigesetzt. Die eigene Identität verliert immer mehr ihre relative Selbstverständlichkeit, Stabilität und soziale Einbindung; sie wird als dynamische Wirklichkeit und als individuell zu bewältigende Aufgabe entdeckt. Das Selbstbewusstsein und der Wille zur Selbstbestimmung sind enorm gewachsen. Das Leben ist nicht mehr nur Schicksal, sondern zunehmend auch Gestaltungsnotwendigkeit.

      Was zu Beginn der Moderne ein Privileg begüterter, männlicher und gebildeter Kreise blieb, kam aufgrund des Individualisierungsschubs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Breite der Gesellschaft an. Die sozial vorgegebene Biographie wurde in die „selbst hergestellte und herzustellende transformiert“253, die Normalbiographie damit zur Wahlbiographie (Katrin Ley), reflexiven Biographie (Anthony Giddens), Bastelbiographie (Ronald Hitzler) und Risikobiographie (Ulrich Beck). Das Leben wird als einzigartige Aufgabe aufgefasst, die möglichst selbstbestimmt und innovativ gelöst werden muss. Dem Individuum werden gleichermaßen Freiheit wie Verantwortung für das Lebensprojekt übergeben; der Einzelne muss „zum biographischen Planungsbüro seiner selbst werden“254. Daher tritt ein entsprechendes Selbstmanagement ins Zentrum der Lebensgestaltung.

      Das Leben als Projekt wird so zu einem anspruchsvollen Unterfangen. Sein Gelingen und sein Scheitern liegen beim Individuum selbst. Es erlebt sich als Produzenten der Risiken und Kontingenzen, die seine Biographie prägen.255 Die Ambivalenzen der spätmodernen Gesellschaft schlagen direkt auf den Einzelnen durch. Denn der Schutz traditioneller sozialer Rückbindungen wie Familie, Nachbarschaft oder Kirchengemeinde ist zumindest teilweise perforiert.256

      In der Folge werden das eigene Leben und die darin abverlangten Entscheidungen zum Gegenstand expliziter Thematisierung und permanenter Reflexion.257 Für jede Festlegung, die man trifft, muss man sich rechtfertigen können. Personale Identität kommt in der Spätmoderne durch Reflexion auf sich selbst als Projekt zustande.258 Der Projektcharakter des Lebens impliziert die Aufforderung zur Selbstkritik und zur Selbstbespiegelung.

       1. Zwang zur Freiheit – Erfahrung der Verunsicherung

      Ohne Frage ist in der Spätmoderne die Freiheit zum Lebensentwurf gestiegen. Niemand wird die Chancen zur Verwirklichung eigener Ideen missen wollen. Doch die Gestaltung des Lebens ist nicht nur eine Lust, sondern auch eine Last, und sie geht mit Verunsicherungen einher. Die zunehmende Ablösung sozialer Praktiken von konkreten Orten und spezifischen Zeiten wie von natürlichen und traditionalen Vorgaben führt zu einem disembedding der/des Einzelnen.259 Die gesellschaftliche Individualisierung hat ein Janusgesicht, das gleichzeitig Freisetzung und Entwurzelung bedeutet.260 Die Frage ist zunehmend virulent, woher man wissen kann, was man wollen soll. Außerdem wird deutlich, dass man von immer mehr Wahlmöglichkeiten faktisch ausgeschlossen bleibt.

      Die Spannung zwischen dem Bestreben, nur man selbst zu sein, und der Schwierigkeit, dieses Projekt zu verwirklichen, kann zu Depression und Sucht führen – Krankheiten, die als typische Störungen des Subjekts in der Spätmoderne auszumachen sind.261 Die Unsicherheit in der Organisation des Lebens erklärt auch den Erfolg des Beratungswesens in Fragen des Berufs, der Partnerschaft, der Gesundheit, der Freizeit oder des Stils. Manchmal steht im Hintergrund der Wunsch nach einfachen und fertigen Antworten. Entsprechende Angebote auf dem Psycho-Markt, aber auch religiöser Fundamentalismus oder politischer Extremismus sind für manche attraktiv.

      Die Entstehung zeittypischer Erkrankungen sowie eines lebensanschaulichen Marktes verweist auf die materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen, die zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens notwendig sind.262 Längst nicht allen Menschen sind diese Ressourcen in ausreichendem Maße zugänglich, bedingt etwa durch Herkunft, Gesundheitszustand, Geschlecht oder soziale Stellung.263 Trotzdem bleibt auch für sie der Anspruch bestehen, das Leben als Projekt zu führen, selbst wenn sie dazu manchmal kaum in der Lage sind.

      Die Erwartung, das Leben als Projekt zu begreifen, wirkt also an und

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