Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов
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Exklusion
Marie-Rose Blunschi Ackermann
1. Begriffsklärung
Das Begriffspaar Inklusion / Exklusion wird mit verschiedenen Akzentsetzungen in unterschiedlichen Theoriezusammenhängen verwendet: Systemtheorie, Konfliktforschung, Wissenssoziologie etc. Es bezeichnet eine Beziehung zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Personen bzw. Gruppen. Mittels Institutionen im weiten Sinn konstruieren Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaften, Kulturen ihre Identität im Spannungsverhältnis von Einbindung und Ausschluss.198 Extremformen von Exklusion sind die physische oder psychische Vernichtung, ob aktiv betrieben oder in Kauf genommen durch Nicht-Gewährung von Hilfe oder Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen. Extremformen von Inklusion sind der Zwang zur Anpassung, die totale Kontrolle, der Entzug von Freiheit und Autonomie. Das Begriffspaar hat sich als fruchtbar erwiesen, um den Umgang von Gesellschaften bzw. Kulturen mit Armut und Fremdheit zu beschreiben und über zeitliche und geographische Distanzen hinweg zu vergleichen: Wie werden Grenzen der Zugehörigkeit und der Teilhabe markiert? Welche Prozesse der Schließung bzw. Öffnung von Zugängen zu materiellen Ressourcen, sozialem Ansehen, kultureller Anerkennung oder politischer Macht lassen sich beobachten?199
In der religionswissenschaftlichen Diskussion wird das dreiteilige Schema Exklusivismus – Inklusivismus – Pluralismus zur Klassifizierung verschiedener Umgangsweisen mit fremden Wahrheitsansprüchen verwendet. Exklusivistische Positionen schließen andere Religionen als Heilswege aus. Inklusivistische Positionen setzen die eigene Sichtweise als umfassende Norm und anerkennen die Möglichkeit anderer Heilswege, insofern sich diese darin integrieren lassen. Pluralistische Ansätze gehen von der Gleichwertigkeit der verschiedenen Religionen aus. Auch dies ist allerdings letztlich ein exklusiver Ansatz, da er diejenigen ausschließt, „die eben diese Voraussetzung der gegenseitigen Unterstellung der Gleichwertigkeit nicht teilen.“200
2. Soziale Ausschließung: ein Kennzeichen von Armut in der Spätmoderne
Soziale Ausschließung als Kennzeichen extremer Armut wurde in Europa schon in den frühen sechziger Jahren problematisiert, und zwar von einem pastoralen Praktiker, der diese Realität seit seiner Kindheit aus eigener Erfahrung kannte. Joseph Wresinski (1917–1988), Gründer der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt (All Together in Dignity), hat aus der Weigerung, Elend und Ausgrenzung als Fatalität hinzunehmen, einen theologischen, politischen und pädagogischen Ansatz entwickelt, der mit der Überzeugung, dass jeder Mensch geistbegabt ist, radikal ernst macht.201 Als Seelsorger in einem Notunterkunftslager bei Paris suchte er eine Zusammenarbeit mit Forschern und Forscherinnen verschiedener Disziplinen, um die Situation der im Kontext einer modernen Gesellschaft als „asozial“ angesehenen Familien zu verstehen und zu verändern. Im Anschluss an eine von Wresinski angeregte Tagung 1964 bei der UNESCO prägte der Soziologe Jules Klanfer den Begriff der sozialen Ausschließung (exclusion sociale) als Kennzeichen von Armut in den reichen Ländern.202 Er steht für ein Phänomen, das mit der an Arbeitsverhältnisse gebundenen marxistischen Begrifflichkeit der Ausbeutung nicht adäquat erfasst werden konnte.203
Wresinski versteht Armutssituationen als Momente in einem Exklusionsprozess, welcher den Betroffenen grundlegende Sicherheiten (z. B. Arbeit, Wohnung, Einkommen, Bildung, Rechtsschutz, politische Vertretung) entzieht und sie so der Möglichkeit beraubt, ihre Rechte auszuüben und ihre Verantwortungen wahrzunehmen. Laut seiner Definition, die vom französischen Wirtschafts- und Sozialrat und später vom UNO-Menschenrechtsrat übernommen wurde, führt wirtschaftliche und soziale Unsicherheit (Prekarität) „dann zu starker Armut, wenn sie mehrere Existenzbereiche berührt, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält, wenn sie die Möglichkeiten beeinträchtigt, aus eigener Kraft in einer absehbaren Zeit seinen Verantwortungen wieder nachzukommen und seine Rechte zurück zu erwerben.“204
Bereits 1968 spricht Wresinski von der „Brutalität von Verachtung und Gleichgültigkeit“205, die Elend hervorbringe. Inzwischen haben soziologische und wirtschaftshistorische Analysen aus unterschiedlichen Schulen gezeigt, dass die angesprochene Indifferenz strukturell zur spätmodernen Gesellschaft gehört und eine Voraussetzung für deren Funktionieren darstellt. In dieser Gesellschaftsform beruhen Verpflichtungen zwischen den Individuen (außerhalb der Familie und der engen Freunde) nicht auf traditionellen, verwandtschaftlichen oder ständischen Bindungen, sondern auf Leistung und Gegenleistung. Die Verpflichtung endet, wenn der festgelegte Zweck erfüllt ist. Außerhalb dieser Tauschbeziehung begegnen sich die Individuen mit Indifferenz, einer Haltung wohlwollender Nichtbeachtung.206 Diese Haltung verhindert die Eskalation von Konflikten207, hat aber auch zur Folge, dass Menschen, die aufgrund ihrer Situation nicht in der Lage sind, in interessegebundenen Tauschbeziehungen die erwartete Gegenleistung zu erbringen, stigmatisiert oder kriminalisiert werden, sofern sie nicht ganz aus dem Wahrnehmungsraster hinausfallen.
Seit den neunziger Jahren wird Exklusion unter dem Stichwort der „Überflüssigen“ diskutiert.208 Der Blick richtet sich auf die wachsende Anzahl von Menschen, für die es im Arbeitsmarkt keinen Platz gibt. Als neu wird wahrgenommen, dass die mit dem Fehlen von Arbeitseinkommen und beruflichem Status verbundene gesellschaftliche Disqualifizierung in breitem Maße Menschen in sehr unterschiedlichen Ausgangslagen trifft: Einheimische und Fremde, quer durch die traditionellen sozialen Schichten und Klassen. Systemtheoretisch kann ihre Situation als Konsequenz der funktionalen Differenzierung unserer Gesellschaften verstanden werden:
„Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen. Keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen, keine regulären Ehen, Kinder ohne registrierte Geburt, ohne Ausweis, ohne Zugang zu an sich vorgesehenen Anspruchsberechtigungen, keine Beteiligung an Politik, kein Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten – die Liste ließe sich verlängern, und sie betrifft, je nach den Umständen, Marginalisierungen bis hin zu gänzlichem Ausschluss.“209
3. Ausgegrenzte Erkenntnissubjekte
Der öffentliche Diskurs in der Spätmoderne ist von einem grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits gilt die Tatsache, dass Menschen, Gruppen und ganze Staaten vom Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen, Handlungsund Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleiben, als inakzeptabel. Andererseits wird der Erfahrung und den Erkenntnissen dieser Menschen, Gruppen oder Staaten bei der Analyse der Problemlagen und bei der Suche nach Lösungen keine Bedeutung beigemessen. Sie werden als Opfer ohne eigene Analyse und Initiative dargestellt. Oft wird ihnen diese „Opferhaltung“ zum Vorwurf gemacht oder gar zur Ursache ihrer anhaltenden Ausgrenzung erklärt.
Armut verbunden mit sozialem Ausschluss verletzt die Menschenrechte und ist Gewalt an Personen. Das Wissen der Allerärmsten ist unentbehrlich, um diese Gewaltsituationen zu überwinden. Allerdings werden Menschen, welche durch den negativen Blick, der auf ihnen lastet, geprägt sind, ihr Wissen und ihre Ansichten nicht ohne weiteres preisgeben: „We know where, with whom and when we can talk.“210 Eine rein deskriptive Forschung, die nicht vom Streben nach einem Leben in Würde ausgeht, hat für sie keinen Sinn und ist auch ethisch nicht zu vertreten. Erkenntnisgewinn ist nur im Rahmen einer verbindlichen Beziehung möglich. Das Eingehen einer solchen verändert bereits die Situation und eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Es verändert auch die Position des Forschers bzw. der Forscherin.
„To break the silence it is necessary to recognize the knowledge possessed by those who have had silence imposed on them, to have the will to merge it with the knowledge generated by universities, NGOs and institutions in general, and in the process to create new knowledge that will transform institutional