Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов
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Die Überwindung sozialer Ausschließung verlangt einen nachhaltigen Lernprozess214, in dessen Verlauf die ausschließenden Institutionen ihre Zuständigkeit für die betreffenden Personen anerkennen. Sie nehmen diese nicht länger nur als Arme oder als Problemfälle wahr, sondern als Mitbürger, Schüler, Pfarreiangehörige oder Internetnutzer, auf deren Wissen sie angewiesen sind, um ihrem Auftrag für alle gerecht zu werden. Ein Merkmal gelungener Transformation ist, dass die Ausgrenzung eines Bevölkerungsteils als Widerspruch zu den Werten und Zielen der betreffenden Institution thematisiert wird und dass diese eine politische Beziehung mit den Ausgeschlossenen eingeht, um die eigenen Werte und Ziele neu zu verstehen und gemeinsam zu realisieren.215
4. Theologische Erkenntnis im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion
Praktische Theologie hat sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Dichotomie von innen und außen (z. B. Kirche und Welt, die Gemeinde und die Armen, religiös und säkular) sie jeweils verwendet und wie sie die Beziehung zwischen beiden Bereichen konstruiert. Welche Phänomene passen in das Wahrnehmungsraster des Praktischen Theologen / der Praktischen Theologin und welche fallen hindurch? Welche Personen und Gruppen kommen als Erkenntnis- und Forschungssubjekte in Betracht und welche werden ausgeschlossen? Inwiefern fördert oder behindert ein Forschungsprojekt diese verschiedenen Subjekte in ihrem eigenen Verständnis der Situation und in ihren Handlungsmöglichkeiten?216
Eine Praktische Theologie, die auf das Leben aller Menschen entsprechend ihrer Würde vor Gott ausgerichtet ist, hat sich vorrangig an denjenigen auszurichten, deren Würde und Lebensmöglichkeiten am meisten unterdrückt sind. Eine Praxis, welche die Partnerschaft mit den Ärmsten zur Grundlage politischen und bürgerschaftlichen Handelns macht, kann gleichzeitig als konsequente Umsetzung der Ideale der Moderne verstanden werden: Mündigkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte und Demokratie.217 Sie bedeutet allerdings einen Bruch mit einer exklusiven Konzeption dieser Ideale. Im Unterschied zu Ansätzen, die zwar den Kreis der mündigen Bürger in einem permanenten Kampf um Anerkennung (Axel Honneth) nach und nach ausweiten, aber bei der Konstituierung der neuen politischen Subjekte (Dritter Stand, Arbeiterklasse, Frauen218, ehemals kolonisierte Völker) einen „menschlichen Abfall“ in Kauf nehmen (die Passivbürger bei Emanuel Joseph Sieyès, das Lumpenproletariat bei Karl Marx), macht diese Praxis den Ärmsten zum Garanten der Universalität dieser Ideale und betrachtet seinen Beitrag als unerlässlich, um diese zu konkretisieren. „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen ist heilige Pflicht“219, diese von Wresinski formulierte Devise weist über die Dichotomie von Inklusion und Exklusion hinaus. Sie sucht Einigung nicht durch Abgrenzung nach außen, sondern durch das Eingehen einer politischen Beziehung mit denjenigen Menschen, denen unter den herrschenden Bedingungen ein Leben in Würde nach anerkannten Normen verwehrt ist. Christliche und kirchliche Praxis hat sich an diesem Anspruch zu messen.
Wenn die Erfahrungen, Fragen und Erkenntnisse von Menschen, die unter den Bedingungen der Spätmoderne vom Zugang zu den Grundrechten ausgeschlossen sind, nicht in die praktisch-theologische Reflexion einfließen können, dann beraubt sich die Theologie einer zentralen Erkenntnisquelle. Sie läuft damit Gefahr, sich „über das Wesen Gottes selbst“ zu täuschen.220 Die Nutzung dieser Quelle in Lehre und Forschung darf nicht vom Zufall oder vom guten Willen Einzelner abhängig sein, sondern muss in den verschiedenen Räumen theologischer Reflexion institutionell verankert werden. Zusammen mit Gruppen und Organisationen, bei denen arme, sozial ausgeschlossene Personen sich beteiligen und äußern, können Räume geschaffen werden, um Fragen im Zusammenhang mit Sinn, mit religiöser Praxis und mit Zugehörigkeit gemeinsam zu formulieren und zu vertiefen.
Ein langfristiger Ansatz ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine Partnerschaft mit den Ärmsten. Es ist sinnvoll, wenn Praktische Theologen und Theologinnen zeitweilig oder dauerhaft ihren institutionellen Rahmen verlassen, um in der Begegnung, im Zusammenleben und im gemeinsamen Handeln mit armen und ausgeschlossenen Personen und Bevölkerungen ihren Beruf neu zu lernen.
Gender und Intersektionalität
Andrea Qualbrink / Renate Wieser
Das Zweite Vatikanische Konzil streicht in seiner Betonung der menschlichen Gleichheit deutlich die Notwendigkeit der Ablehnung jeglicher Art von Diskriminierung hervor:
„Da alle Menschen eine geistige Seele haben und nach Gottes Bild geschaffen sind, da sie dieselbe Natur und denselben Ursprung haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich derselben göttlichen Berufung und Bestimmung erfreuen, darum muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden. […] Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht.“221
Drei Formen der Diskriminierung erfahren dabei unter Papst Johannes XXIII. eine besondere Hervorhebung. In seiner Enzyklika Pacem in terris benennt er sie als die drei Merkmale der Gegenwart, die als „Zeichen der Zeit“ wahrzunehmen sind, nämlich die Arbeiterfrage, die Frauenfrage und die Freiheitsbestrebungen der ehemaligen kolonialen Völker.222 Nach wie vor sind es genau diese drei Kategorien (race, class and gender), die auch in den aktuellen Intersektionalitätsdebatten als fundamentale Achsen der Differenz bzw. Ungleichheit angesehen werden.
Die Sensibilität für ungleichheitsgenerierende Differenzierungskategorien sowie das Bemühen um die Aufhebung jeglicher Art der Diskriminierung fanden und finden ihre Aufnahme in den theologischen Diskurs, u. a. durch die feministische Pastoral/Theologie und die theologische Frauen-, Männer- und Geschlechterforschung. Wie die Pastoraltheologie selbst sind diese auf die enge Zusammenarbeit mit vielfältigen Bezugsdisziplinen angewiesen, prominent auf die Frauen-, Männer- und Genderforschung sowie auf den Austausch mit den Queer-, Cultural- und Postcolonial Studies.223
1. (Spät-)moderne Existenz und Differenz auf mehreren Ebenen
Ungleichheitsgenerierende Differenzkategorien können auf drei Ebenen betrachtet werden: auf der gesellschaftlichen Makro- und Mesoebene (gesellschaftliche Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen), der Mikroebene (Prozesse der Identitätsbildung) sowie der Repräsentationsebene (kulturelle Symbole)224, denn Subjekte entwerfen sich durch soziale Praxen, durch Handeln und Sprechen auf diesen drei Ebenen. Sie konstituieren sich selbst durch Identitätskonstruktionen in sozialen Kontexten (Mikroebene), sie verstärken oder vermindern den Einfluss bestimmter symbolischer Repräsentationen (Repräsentationsebene), und letztlich stützen sie gesellschaftliche Strukturen oder stellen sie in Frage (Makro- und Mesoebene).225 Auf diesen drei Ebenen lassen sich auch die Erkenntnisse der Frauenforschung, der Geschlechterforschung bis hin zu den Queer Studies in den letzten 40 Jahren kategorisieren.