Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов
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Letztlich führt dies zu dem „Paradoxon, daß der Mensch fähig ist, eine Welt zu produzieren, die er dann anders denn als ein menschliches Produkt erlebt“184. Denn bei fortgeschrittener Institutionalisierung stehen nun die aus menschlichem Handeln resultierenden Institutionen
„dem Individuum als objektive Faktizitäten unabweisbar gegenüber. Sie sind da, außerhalb der Person, und beharren in ihrer Wirklichkeit, ob wir sie leiden mögen oder nicht. Der Einzelne kann sie nicht wegwünschen. Sie widersetzen sich seinen Versuchen, sie zu verändern oder ihnen zu entschlüpfen. Sie haben durch ihre bloße Faktizität zwingende Macht über ihn, sowie auch durch die Kontrollmechanismen, die mindestens den wichtigsten Institutionen beigegeben sind.“185
3. Funktionen der Institution
Institutionen stellen zwar „dem Individuum gegenüber den Anspruch auf Autorität“186, sie entlasten aber auch zugleich. Institutionen „stabilisieren Spannungen dadurch, dass sie den Menschen vom Druck unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung mittels Übersetzung in anhaltende kulturelle ‚Steigerung‘ entlasten“187. Sie sind „Teile und Folgen der Versuche der Menschen, ihre Probleme im Alltag zu lösen“, sie dienen der
„Schaffung von individueller Orientierung und von kollektiver Ordnung in einer komplizierten Welt dadurch, daß mit ihnen die Unberechenbarkeiten der psychischen Motive und die Unwägbarkeiten des sozialen Handelns einigermaßen kontrollierbar und vorhersehbar werden“188.
Den Institutionen kommen dabei nach Hartmut Esser eine Orientierungsfunktion, eine Ordnungsfunktion sowie eine Sinnstiftungsfunktion zu. So gesehen kann man
„die Funktion der Entlastung von Unsicherheit und Entscheidungsdruck die Orientierungsfunktion und die der Absicherung der sozialen Ordnung und der Kooperation die Ordnungsfunktion der Institutionen nennen. Sie beruhen beide auf einer ganz allgemeinen Funktion von Institutionen: die Einordnung eines Handelns in einen den Akteuren im Prinzip verständlichen und sie dann auch bindenden weiteren Zusammenhang – den Sinnzusammenhang der sozialen Regeln, der die Legitimität der Institution ausmacht. Diese Funktion sei als die Sinnstiftungsfunktion der Institution bezeichnet.“189
4. Der spätmoderne Bedeutungsverlust institutionalisierter religiöser Praxis
Betrachtet man die institutionalisierte religiöse Praxis der Gegenwart, so lässt sich unschwer ein Bedeutungsverlust feststellen. In den Jahren von 1960 bis 2007 haben beispielsweise in der deutschen katholischen Kirche die Taufen von Kindern, bei denen mindestens ein Elternteil katholisch ist, von 86,9 auf 72,7 % abgenommen.190 Die katholische „Trauquote“ je hundert ziviler Eheschließungen von Paaren, von denen mindestens ein Partner katholisch ist, sank im gleichen Zeitraum von 75,1 auf 31 %.191 Die Teilnahme am Gottesdienst nahm deutschlandweit von über 45 auf unter 15 % ab.192
Bei der Analyse der Entwicklung der Zahl der Gottesdiensteilnehmer/-teilnehmerinnen spricht vieles dafür,
„dass die Rückläufigkeit Ausdruck für einen tieferen Wandel im Verhaltensmuster bei den Katholiken ist: Von einer ‚habituellen‘, nämlich gewohnten und erlernten, fraglos selbstverständlichen ‚regelmäßigen‘, nicht zuletzt auch am ‚Sonntagsgebot‘ orientierten Teilnahme zu einer je gewählten – und: immer wieder neu zu wählenden – Teilnahme.“193
Grundsätzlich lässt sich der hier angedeutete Verlust der Kirchlichkeit vor allem in drei Bereichen indizieren:
„1. Rückgang des normierenden Einflusses der Kirchen auf die Sektoren staatlichen Handelns […] 2. Rückgang des kirchlichen Engagements der Kirchenmitglieder […] 3. Bedeutungsverlust religiöser Sinndeutungssysteme für den einzelnen und die Kultur der Gesellschaft.“194
Was sich an diesen die katholische Kirche betreffenden Zahlen zeigt, lässt sich in den letzten Jahrzehnten auch als gesamtgesellschaftlicher Trend festhalten: Bisher wichtige Organisationen verlieren an Bedeutung, die Institutionen, die bisher das Leben der Individuen sowohl entlasteten als auch prägten und einengten, treten immer weiter zurück. Dies zeigt sich etwa im säkularen Bereich in der zunehmenden Pluralisierung der die traditionelle Ehe ersetzenden partnerschaftlichen Lebensformen. Auch das sich aufsplitternde und unberechenbarer werdende Wahlverhalten könnte ein Indiz dafür sein, dass Milieus und mit ihnen verbundene institutionelle Parteipräferenzen auseinanderdriften.
5. Die spätmoderne Institution der Deinstitutionalisierung
Nimmt man das oben eingeführte Verständnis von Institution ernst, so könnte man angesichts der aktuellen Entwicklung auf breitem Feld von der Institution der Deinstitutionalisierung sprechen. Nichts scheint heute – lässt man sich jenseits abgeschotteter „Mentalitätsinseln“ auf die Gegenwart tatsächlich ein – sicherer zu sein, als den immer wieder neuen Aufruf zur freien Wahl, den Berger anschaulich als Zwang zur Häresie betitelt. Das griechische Wort „Hairesis bedeutete ursprünglich ganz einfach, eine Wahl zu treffen“195. Es meinte in seiner kirchlichen Verwendung eine Gruppe oder Partei innerhalb einer größeren religiösen Gemeinschaft, die sich von der religiösen Autorität der Gemeinschaft absetzt. Diese Möglichkeit, sich abzusondern, fällt mit der Deinstitutionalisierung weg. Jetzt wird aus dem Sonderfall der Häresie ein allgemeines Phänomen, dem sich keiner mehr entziehen kann.
„Auf die Religion bezogen […] bedeutet dies, daß der moderne Mensch nicht nur mit der Gelegenheit, sondern vielmehr mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, hinsichtlich seiner Glaubensvorstellungen eine Wahl zu treffen. Dieses Faktum konstituiert den häretischen Imperativ in der gegenwärtigen Situation.“196
Je weiter Institutionen an Einfluss verlieren, desto deutlicher wird einerseits die Wahlfreiheit des Individuums ansteigen, aber desto unbehauster werden sich andererseits manche Menschen fühlen. „So ist die Häresie, einstmals das Gewerbe randständiger und exzentrischer Menschentypen, eine weitaus allgemeinere Conditio geworden; Häresie ist in der Tat universell geworden.“197 Dies kann nicht nur Freiheit bedeuten, sondern auch zur Belastung werden – und so die (unreflexive) Flucht in vermeintlich sichere, geschlossene religiöse Welten begünstigen. Nicht umsonst scheint in der gegenwärtigen Situation die Bedeutung fundamentalistischer Tendenzen und Gruppierungen zugenommen zu haben.
6. Häresie als Zeichen der Zeit
Praktisch-theologisches Arbeiten in der Gegenwart muss sich der heute anzutreffenden Institution der Deinstitutionalisierung stellen. Es muss zwischen der Freiheit des Menschen und ihn unterstützend-entlastenden Institutionen immer wieder neu ausbalancieren. Praktische Theologie kann auch mithelfen, zwischen „guter“ und „schlechter“ Institutionalisierung zu unterscheiden, indem sie immer wieder die Frage nach der Lebensdienlichkeit einzelner Institutionen stellt.
Vor dem Hintergrund der heute anzutreffenden pluralisierenden Individualisierung kann sie auch die Frage wachhalten, ob das „Zeitalter der Institutionen“ nach den eher geschlossenen Weltbildern von Aristoteles bis Thomas Hobbes nur eine Übergangszeit war und wie dieser neuen pluralen Situation heute konstruktiv-kritisch zu begegnen ist. Nicht zuletzt muss die Praktische Theologie die Häresie als Signatur der Spätmoderne ernst nehmen