Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов

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Praktische Theologie in der Spätmoderne - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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lässt sich die Aufgabe einer spätmodernen Pastoraltheologie kaum umschreiben. Theologischen Kulturpessimisten von Joseph Ratzinger bis Johann Baptist Metz möchte man mit Foucault zurufen: „Ihr habt nicht das Recht, die Gegenwart zu verachten.“151 Christliche Zeitgenossenschaft in der Spätmoderne führt zu einer Solidarität mit der eigenen Gegenwart, deren ressentimentfreie Haltung – wie im Falle von Gaudium et spes, das positiv bei „Freude und Hoffnung“ ansetzt, ohne zugleich „Trauer und Angst“ (GS 1) zu verschweigen – die Basis auch für eine prophetische Anklage von Missständen der Gegenwart darstellt. Der Löwener Fundamentaltheologe Lieven Boeve bezieht in ähnlicher Weise Stellung gegen die theologische Bewegung Radical orthodoxy, die glaubt, mit dem (vermeintlichen) postmodernen Ende der Moderne auch (vermeintlich) ‚altliberale‘ korrelative Theologien152 eines solidarischen Gegenwartsbezugs verabschieden zu können. Boeve selbst votiert für eine „Rekontextualisierung“153 dieser Theologieformate im Kontext der von ihm Postmoderne genannten Spätmoderne. Diese Position kann sich auf einen kirchenoffiziellen Lehrstandpunkt berufen, der seit dem Konzil höchstamtlich autorisiert ist:

      „Die Gläubigen sollen in engster Verbundenheit mit den anderen Menschen ihrer Zeit leben und sich bemühen, ihre Denkweisen […] bis ins Letzte hinein zu verstehen. […] Die theologische Forschung soll sich zugleich um eine tiefe Erkenntnis der offenbarten Wahrheit bemühen und die Verbindung mit der eigenen Zeit nicht vernachlässigen […].“ (GS 62)

      Hier lohnt es sich, mit de Certeau noch einmal einen Theologen zu Wort kommen zu lassen, der bereits spätmodern dachte, als alle anderen noch versuchten, überhaupt erst einmal modern zu sein:

      „Der Bruch ist eine Konstante der Spiritualität […] Im Wesentlichen ist es vielleicht eine Überraschung, die ihn charakterisiert. Sie […] wächst mit der Kühnheit eines Glaubens, dem Gott zuvorkommt […] und den er durch menschliche Umstände immer wieder neu verunsichert. Diese Kühnheit besteht in dem Willen, […] bis an das Ende der Spannungen und Ambitionen einer bestimmten Zeit zu gehen. […] Der Spirituelle ist ein Reisender, ein Wanderer. […] Sein Gepäck ist nicht üppiger als das seiner Zeitgenossen. Was er […] von ihnen empfängt und was er ihnen zurückgibt […], das begreift er als eine Frage, die sich in jeder Begegnung immer wieder neu stellt, als eine glückliche Wunde im Herzen jeder […] Solidarität […].“154

      Das wäre das entscheidende Moment jeder spätmodernen Pastoraltheologie: „bis an das Ende der Spannungen und Ambitionen“155 der eigenen Gegenwart mitzugehen und dabei auf so manche Überraschung gefasst zu sein. Auch der Glaube von Rahners berühmtem Christen der Zukunft, der in der Tat „etwas erfahren“156 haben muss, ist nicht unterhalb eines gewissen Differenzgrades zu haben – wobei der schwer zu fassende Begriff der Erfahrung mit einer genial einfachen Definition Foucaults gedeutet werden kann: „etwas, woraus ich verändert hervorgehe“157. Christliche Erfahrung gibt es heute nur noch als eine vermittelte „Erfahrung mit Erfahrungen“158. Nicht außerhalb oder oberhalb dieser fundamentalen Differenz, sondern nur in ihr und durch sie hindurch lässt sich heute noch glauben. Manchem skeptischen Zeitgenossen bleibt dabei nur Vattimos spätmodern gebrochener „Glaube, zu glauben“159 oder vielleicht sogar nur die ignatianische Sehnsucht nach der Sehnsucht. Und selbst dieser schwache Glaube und noch die vermissende Sehnsucht danach sind in der Spätmoderne nicht mehr ungebrochen möglich. Aus dem Paradies eines differenzfreien, bruchlosen Glaubenkönnens sind wir ein für alle Mal vertrieben. Christinnen und Christen bleibt die ‚notwendige Unmöglichkeit’160 eines existenziellen Einstehens für die Schwäche eines Glaubens, dessen gebrochene ‚crédibilité‘ man in der Nachfolge Christi unvertretbar bezeugen muss: Willkommen in der Spätmoderne!

2. Teil: Signaturen

       Beschleunigung

      Tobias Kläden

      Die Zeitstrukturen einer Kultur oder einer Gesellschaft haben einen enormen Einfluss auf das Leben und Erleben des Individuums. Als wesentlich zeitlich verfasste Kreatur steht der Mensch immer wieder vor der Frage, wie er seine Zeit verbringen will. Bei der Entscheidung dieser Frage kann der Freiheitsgrad je nach Situation sehr unterschiedlich sein. Insgesamt gilt jedoch, dass Zeitstrukturen in hohem Maße kollektiver Natur sind und den handelnden Individuen stets mit massiver Faktizität entgegentreten. Die Aufmerksamkeit für die jeweiligen temporalen Formationen ist daher ein wichtiger Bestandteil der Gegenwartsanalyse.

      Fragt man differenzierter danach, wodurch sich die Zeitstrukturen der Gegenwart auszeichnen, so lässt sich der Begriff der Beschleunigung als Kulminationspunkt zahlreicher Erfahrungen ausmachen, die das Lebensgefühl der Menschen – zumindest in westlich geprägten Gesellschaften – prägen. Der Eindruck ‚alles wird immer schneller und hektischer‘ wird von vielen geteilt; eine Fülle von feuilletonistischen und populärwissenschaftlichen Beiträgen weist – nicht ohne eine gewisse Aufgeregtheit – auf einen allgegenwärtigen und bedrohlichen Zwang zur Beschleunigung hin und mahnt zur Entschleunigung.161 Auf der anderen Seite gibt es aber auch Stimmen, die eine weitere Beschleunigung einfordern und die Notwendigkeit von Beschleunigungsprozessen (etwa für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums) anmahnen – und schließlich solche, die der Aufgeregtheit der Debatten entgegenwirken und für eine Entdramatisierung in der Bewertung gegenwärtiger Zeitstrukturen plädieren.162

      Welche Position soll die Praktische Theologie in diesen Debatten um Be- und Entschleunigung einnehmen? Zwei Positionen verbieten sich gleichermaßen: zum einen eine kulturkritische bzw. -pessimistische Sicht der gegenwärtigen Gesellschaft, die zwischen Welt und Kirche prinzipiell ein oppositionelles, feindliches Verhältnis annimmt; zum anderen eine unkritisch affirmative Sicht auf gegenwärtige Entwicklungen, die für deren Ambivalenzen und Nebenfolgen sowie für die Nöte der Menschen, die mit ihnen leben müssen, keine Sensibilität zeigt, sondern beschwichtigt und beruhigt nach dem Motto: ‚Es wird schon alles nicht so schlimm werden.‘

      Hilfreich ist hingegen ein nüchterner Blick auf die Zeit-Phänomene der Gegenwart, der deren Vielfältigkeit und Paradoxalität differenziert wahrnimmt. Einschlägig hierzu sind die Studien des Jenaer Zeit-Soziologen Hartmut Rosa, der von dem Paradoxon ausgeht, dass wir keine Zeit haben, obwohl wir sie ständig und im Überfluss gewinnen: Eigentlich müssten wir angesichts der Fülle von technischen Helfern, die uns unser Leben einfacher und leichter machen sollen, in einem ungeheuren Zeitwohlstand leben.163

       1. Das Paradoxon der Beschleunigung

      Um dieses Paradoxon aufzulösen, ist nach Rosa die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Beschleunigung vonnöten. Es erweist sich nämlich, dass es sich um drei logisch und kausal voneinander unabhängige Prozesse handelt, die zum Teil sogar einander widersprechen. Diese drei Formen der Beschleunigung sind die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos.

      Die technische Beschleunigung lässt sich anhand der erhöhten Geschwindigkeiten von Transport (Fußreise bis Raumschiff), Kommunikation (vom Läufer von Marathon bis zum raumlosen Internet) und Produktion (von manufakturieller Fertigung bis zu massenhafter und automatisierter Herstellung von Gütern) demonstrieren. Dass die technische Beschleunigung kein isolierter Prozess ist, zeigt sich bereits daran, dass sie das Verhältnis des Individuums zum Raum, zu den Menschen und zu den Dingen verändert. So ist z. B. durch die Beschleunigung des Transports eine Raumvernichtung bzw. -schrumpfung zu beobachten: Räume werden mental kleiner, je schneller man sie durchqueren kann.

      Soziale Beschleunigung lässt sich daran ablesen, dass die Halbwertszeiten von Kleidermoden, Musikstilen, Telefontarifen oder Computerprogrammen immer kürzer werden. Das gleiche

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