Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов
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3. Zeichen der Zeit
Die in diesem Band vorgelegten Signaturtexte zur Spätmoderne bearbeiten, konzilstheologisch betrachtet, exemplarische „Zeichen der Zeit“ (GS 4).95 Mit der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums verweisen sie auf einen lehramtlich höchstrangigen offenbarungstheologischen Begründungsort96 für die Notwendigkeit einer gegenwartstauglichen Pastoraltheologie:
„Unter quantitativer Hinsicht haben die Zeichen der Zeit […] [in GS, Ch. B.] marginale Bedeutung. Aber das quantitative Resultat ihrer Verwendung ist kein Zeichen für die systematische Bedeutung des Begriffs. Die dogmatische Bedeutung der Zeichen der Zeit ist struktureller Natur; sie prägen die Logik der Argumentation, nicht das einzelne Argument. Der Text weist nicht fortlaufend auf die Zeichen der Zeit hin; aber er ist von ihr im Ansatz bestimmt.“97
Gaudium et spes ermöglicht eine Anerkennung von Zeichen der Zeit als „theologische Orte“98, von denen her Gott in der heutigen Welt zur Sprache gebracht werden kann – und zwar im klassischen Sinn von Melchior Canos loci theologici. Diese stellen Autoritäten des Diskurses („topoi“) dar, von denen her ein theologisches Argument starkgemacht werden kann. Allgemeinplätze im besten Sinn des Wortes: allgemein anerkannte Orte, auf die sich möglichst viele Menschen beziehen können.
Die Pastoralkonstitution benennt einen ganzen Plural solcher Orte: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1). Aber nicht nur die Eröffnungsfanfare von Gaudium et spes ist von der theologischen Bedeutung dieser Zeichen geprägt, sondern auch die Anfänge der anderen Hauptteile der Pastoralkonstitution. Die in diesem Kontext meistens zitierte Stelle am Beginn der Expositio introductiva folgt dem aus der wallonischen Arbeiterpastoral stammenden theologischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln: „Es ist die Pflicht der Kirche, die Zeichen der Zeit zu unterscheiden [Sehen, Ch. B.] und sie im Licht des Evangeliums zu deuten [Urteilen, Ch. B.], so dass sie […] auf die Fragen der Menschen nach dem Sinn […] des Lebens […] antworten kann [Handeln, Ch. B.]“ (GS 4). Eine diskursive Einbahnstraße: Die Menschen fragen und die Kirche antwortet. Anders eine konzilstheologisch gewichtigere Stelle zu Beginn der Prima pars, wo die Zeitsignatur einen Offenbarungsort bildet, den es von allen Beteiligten in gemeinsamer Suche zu entdecken gilt:
„Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis [und nicht nur: die Kirche, Ch. B.] erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, an denen es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit Anteil hat, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Präsenz […] Gottes sind.“ (GS 11).
Diese fortschreitende Präzisierung99 des theologischen Arguments setzt sich im Beginn der Secunda pars fort:
„Nachdem das Konzil dargelegt hat, von welcher Würde die Person des Menschen und zu welcher Aufgabe sie […] gerufen ist, wendet es nun die Herzen aller im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrungen [und nicht nur wie in GS 4: des Evangeliums, Ch. B.] einigen bedrängenderen Notwendigkeiten zu, die das Menschengeschlecht in höchstem Maße betreffen.“100 (GS 46).
Hier wird GS 4 auf der argumentativen Höhe von GS 11 weitergeführt. Es gilt die mathematisch unsinnige, theologisch aber höchst bedeutsame Formel: GS 4 × GS 11 = GS 46.
Entscheidend ist die Signifikanz des jeweiligen Problems. Es gibt einen Komparativ von bedrängenderen und weniger bedrängenden Problemen: In der Pastoral des Konzils ist eine kapitale Weltfinanzkrise wichtiger als der sprichwörtliche Bierpreis des Pfarrfestes. Was beim Konzil urgentiores necessitates heißt, nennt Foucault danger principal:
„Ich möchte eine Genealogie der Probleme […] betreiben. Ich bemühe mich, nicht zu sagen, dass alles schlecht sei, sondern dass alles gefährlich ist – was nicht dasselbe ist wie schlecht. Wenn alles gefährlich ist, dann haben wir immer etwas zu tun. […] Ich denke, dass die […] Wahl, die wir jeden Tag treffen müssen, darin besteht zu bestimmen, was gerade die Hauptgefahr ist.“101
Entsprechende Zeichen der Zeit sind dem französischen Konzilstheologen M.-Dominique Chenu zufolge im Positiven wie im Negativen faits révélateurs – offenbarungsträchtige Tatbestände, deren theologische Betrachtung das Kontinuum unseres Alltags orientierend unterbricht:
„Die Eroberung der Bastille […] war ein winziges Ereignis unter vielen anderen. Aber dieses Ereignis […] wurde signifikant, da es einer ganzen revolutionären Welle als Symbol diente, die ein Jahrhundert lang rund um die Welt rollte. […] Es geht […] darum, in diesem Ereignis jene verborgene Macht zu erkennen, die aus ihm jenen […] Katalysator macht, der von nun an […] den Lauf der Zeiten bestimmt. Es kommt daher weniger auf den […] Inhalt des Ereignisses an als auf die kollektive Bewusstwerdung, die es in Gang setzt. […] Zeichen der Zeit sind […] allgemeine Phänomene, welche […] die Sehnsüchte der gegenwärtigen Menschheit zum Ausdruck bringen. Diese allgemeinen Phänomene sind […] wirkliche Zeichen nur durch jene Überschreitung, die sie – nicht ohne Brüche – in die Kontinuität menschlicher Zeitvorstellungen hineintragen.“102
Ähnlich deutet Foucault die Bedeutung der Französischen Revolution:
„Es ist […] nicht die Revolution an sich […], die die Bedeutungsfunktion erfüllt. Was sie erfüllt […], ist die Art und Weise, wie sie rings herum von den Zuschauern aufgenommen wird, die […] sich von ihr zum Guten oder Schlechten mitreißen lassen. […] Was an der Revolution von Bedeutung ist, das ist nicht die Revolution selbst, die ohnehin ein großes Durcheinander ist, sondern was in den Köpfen der Leute geschieht.“103
Die Unterbrechungen, für die die jeweils signifikantesten Zeichen einer Zeit stehen, sind niemals nur eindeutig positiv oder negativ, sondern in sich stets höchst „ambivalent“104. In ihnen sitzt eine unaufhebbare Differenz zum Guten wie zum Bösen. Sie können auf ein Wachstum des Reiches Gottes hindeuten, zugleich aber auch auf das genaue Gegenteil. Chenu hat sie daher auch niemals einfach nur positiv als Anschlusssteine („pierres d’attente“105) messianischer Erwartung angesehen, sondern immer auch negativ als Steine des Anstoßes („pierres d’achoppement“106), die zu christlichem Widerstand herausfordern. Schon der nationalsozialistisch verbrannte Begriff des ‚Anschlusses‘ zeigt, dass jede theologische Deutung von Zeitsignalen einer entsprechenden Unterscheidung der Zeichen bedarf – wie auch das Beispiel zahlreicher ‚weltoffener‘ Theologen im sogenannten Dritten Reich nahelegt.107 Um die Notwendigkeit dieser gegenwartskritischen discretio signorum zu erkennen, muss man nur einmal das ‚Hitlerfromme‘ Buch Von den Katakomben bis zu den Zeichen der Zeit (1936) des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß zur Hand nehmen, dessen Titel möglicherweise auf den kurz zuvor erschienenen Sammelband Signale der neuen Zeit mit Reden von Joseph Goebbels anspielt. Wichtig für alle Formen einer prägnant zeitsignierten Theologie ist in jedem Fall: Man kann an den jeweiligen Signaturen der eigenen Gegenwart entweder positiv anknüpfen oder ihnen negativ widerstehen – keinesfalls aber darf man ihnen aus Angst vor der Wirklichkeit ausweichen.
4. Denken in Konstellationen
Praktische Theologie in den pluralen Differenzen der Spätmoderne bedeutet: „Es bedarf mindestens zweier Orte, um über ein theologisches Problem als theologisches zu sprechen.“108 Sie ist ein „Denken in Konstellationen“109, das man immer nur von mehr als einem theologischen Ort aus betreiben kann. Daraus folgt ein differenztheoretischer, in seiner Pluralität spätmodern gegenwartsfähiger Grundansatz: Es gibt nicht nur eine Schöpfungserzählung, sondern