Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов

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Praktische Theologie in der Spätmoderne - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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Die so radikalisierte Pluralisierung droht den Einzelnen zu überfordern: Der sich orientierungslos durch Optionen „Zappende“ und der im Fundamentalismus Halt Suchende sind trotz ihrer Gegensätzlichkeit Opfer derselben Entwicklung. Die Suche nach einer gemeinsamen Basis kultureller Bildung, nach verbindenden Werten und nach Grundlagen eines friedlichen Dialogs sind daher wichtige Herausforderungen spätmoderner Gesellschaften.33

      (c) Die Bereicherung durch die Vielfalt und die Faszination angesichts der Fülle von Optionen will wohl niemand gegen Bevormundung und Monotonie eintauschen. Gerade die Gefahr von Fundamentalismen und von kultureller, politischer, biologischer oder wirtschaftlicher Monokultur mobilisiert moderne Widerstandskräfte.

      (5) Das schwierige Projekt, man selbst zu sein:

      (a) Individualisierung ist eine zentrale Entwicklung und Forderung seit Aufklärung und Romantik. Doch wurde sie durch verbreitete kollektive Lebensmuster faktisch stark begrenzt. Solche Lebensmuster, wie zum Beispiel Geschlechterrollen, Berufskarrieren oder Familienbilder, wurden in den letzten Jahren entstandardisiert. Aus der „Normalbiographie“ ist damit endgültig die „Wahlbiographie“ (Katrin Ley), die „reflexive Biographie“ (Anthony Giddens), die „Bastelbiographie“ (Ronald Hitzler) und die „Risikobiographie“ (Ulrich Beck) geworden. Das Leben wird als Projekt aufgefasst, als einzigartige Aufgabe, die möglichst selbstbestimmt und innovativ gestaltet werden muss.34

      (b) Die zunehmend individualisierte Gesellschaft wird aber auch als durch die gegensätzlichen Gefahren der Vereinsamung und der Vermassung bedroht wahrgenommen. Die Überforderung durch das Projekt, man selbst zu sein, kann sich in Vereinzelung oder Depression, in Abhängigkeit oder neuen Standardisierungstendenzen zeitigen. Neue virtuelle und reale Vergemeinschaftungsformen suchen das Miteinander lebendig zu halten.

      (c) Trotz Angst vor Vereinsamung und trotz der Sehnsucht nach Formen verlässlicher Gemeinschaft nimmt der Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung weiterhin eine Schlüsselstellung ein. Die spätmoderne Gesellschaft hält an der Würde und Unhintergehbarkeit von Subjekt und Individuum fest.

      (6) Religion in der Spätmoderne zwischen Säkularisierung, De-Säkularisierung und Post-Säkularität:

      (a) Der deutliche Rückgang religiöser Zugehörigkeit, Praxis und Überzeugung in breiten Bevölkerungsschichten ist für die letzten fünfzig Jahre in Deutschland messbar und belegt. Der fortschreitende Prozess der Entkonfessionalisierung, Entkirchlichung und Entchristlichung scheint unumkehrbar.35 Autonome Welterklärung und Daseinssicherung sind in Westeuropa für die meisten zur Selbstverständlichkeit geworden. Alle Lebensbereiche sind in der Spätmoderne durch die Grunderfahrung der „weltlich“ gewordenen Welt geprägt.36

      (b) Dennoch hat die Säkularisierungsthese an allgemeiner Plausibilität verloren und wird durch andere Erklärungsmodelle ergänzt bzw. ersetzt, die eher von einem Gestaltwandel des Religiösen sprechen und auch religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart ausmachen. Es ist von der „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt) die Rede, von „De-Säkularisierung“ (Peter L. Berger) und von „Re-Spiritualisierung“ (Matthias Horx), gar vom „Megatrend Religion“ (Regina Polak). Es gibt weltweit zahlreiche Anzeichen bleibender Relevanz der Religion und ihres Erstarkens und auch in Deutschland eine verstärktes Interesse an Religion in der „postsäkularen Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) und eine Sehnsucht nach Spiritualität.37

      (c) Doch mindestens für Westeuropa und international für eine einflussreiche Schicht mit höherer Bildung westlicher Art gilt, dass Religion radikal an Verbindlichkeit und Signifikanz verloren hat. Die autonome und rationale Gestaltung der ausdifferenzierten Bereiche der Gesellschaft, die kritische Rationalität des Denkens und die Freiheit gegenüber Religion und im Bereich des Religiösen sind hier für die meisten wichtige Errungenschaften der Moderne, die sie verteidigen wollen.

      Das stolze Selbstbewusstsein der Moderne ließ sich im Fortschrittsgedanken bündeln.

      (a) Spätmodern ist dieser Fortschritt regelrecht entfesselt: Naturbeherrschung, Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung haben ein bisher ungeahntes Maß erreicht.

      (b) Zugleich wird die Ambivalenz dieser Entwicklungen sichtbar, und der Fortschrittsgedanke verliert an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. „Der Fortschritt ist unaufhaltsam“ – dass diese Floskel nur noch als ironische Reaktion auf Veränderungen präsent ist, deren Sinn nicht wirklich einzusehen ist, fängt am alltagssprachlichen Beispiel die Ernüchterung über das Projekt der Moderne ein. Der Verdacht macht sich breit, dass die zunehmend bewusst werdenden Nebenfolgen die Errungenschaften des Fortschritts möglicherweise überrunden. Außerdem fällt es vielen zunehmend schwer, angesichts der entfesselten Fortschrittsdynamik Sinn und Orientierung zu finden.

      (c) Dennoch bleiben der Reiz des Neuen und die Hoffnung auf Verbesserungen unverwüstlich. Eine pauschale Fortschrittsfeindlichkeit wäre fraglos auch borniert und gefährlich. Errungenschaften beispielsweise in den Bereichen Medizin, Informationstechnologie oder Mobilität haben einen Maßstab gesetzt, von dem auch spätmodern die meisten kaum wünschen werden, dass er unterschritten wird.38

       3. Theologie, die an der Zeit ist

      Diese Erwägungen, die in vielem eher holzschnittartig bleiben mussten, konnten das grundsätzliche Zueinander von Moderne und Gegenwart in Kontinuität und Wandel charakterisieren, wie er im Begriff der Spätmoderne angelegt ist. Theologie, die an der Zeit ist, darf die angesprochenen Spannungen der Spätmoderne nicht unterbieten. Sie unterbietet sie dann, wenn sie „nur“ modern denkt, oder wenn sie sie gar vormodern oder postmodern auflösen will. Trotz ihrer oft gegensätzlich erscheinenden Positionen stimmen prä- und postmoderne Vereinfachungen darin überein, dass sie die Spannungen der Spätmoderne nicht aushalten wollen oder können. Außerdem nehmen beide gerne Zuflucht zu einer besserwisserischen Attitüde: Man müsse nur dies oder jenes zur Kenntnis nehmen oder praktizieren, schon wäre alles besser. Doch eine Praktische Theologie, die sich den Spannungen der Spätmoderne stellt, wird solche vereinfachenden Lösungsansätze als weder wünschenswert noch praktikabel entlarven.

      Naturwissenschaft, Technik, ökonomisches Gewinnstreben, gesellschaftliche Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung sind als Grundgegebenheiten der Moderne anzunehmen. Ihre zum Teil verheerenden (Neben-)Folgen sind aber zu kritisieren und zu bekämpfen, ihr Fortschrittsimpetus kritisch zu hinterfragen und ihr Heilsanspruch zu bestreiten. Spätmoderne Zeitgenossenschaft wird an Entwicklungen anknüpfen, die quer zu den angesprochenen Prozessen der Modernisierung liegen, zugleich aber an wichtigen Prämissen und Errungenschaften der Moderne festhalten:

      • Spätmoderne Theologie und Kirche können die Suche nach einem Sinn des Lebens begleiten und unterstützen, der die partikularen Bereiche des gesellschaftlichen Alltags überspannt, ohne aber die enormen Erfolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu negieren.

      • Sie können die Sehnsucht nach Spiritualität aufgreifen, ohne aber in Irrationalität zu verfallen.

      • Sie können die Ahnung der Begrenztheit einer rein autonomen und individuellen Daseinsdeutung und -bewältigung bestätigen, ohne aber den Anspruch der Selbstbestimmung zu hintergehen.

      • Sie können Christen helfen, „aus der säkularisierungstheoretisch begründeten Selbsteinschüchterung herauszukommen“,39 werden aber auch zu einer Verkündigung, die der kritischen Rationalität der Hörerinnen und Hörer Rechnung trägt, und zu einem pastoralen Handeln, das Freiheit respektiert und ermöglicht, ermutigen.

      Wenn dem Projekt der Moderne einerseits

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