Praktische Theologie in der Spätmoderne. Группа авторов

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Praktische Theologie in der Spätmoderne - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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Diatessaron von Tatian oder die Diskurskathedrale der Summa theologica des hl. Thomas wurden entweder (wie die erste) kirchenamtlich verworfen oder sie blieben (wie die zweite) absichtsvoll unvollendet. Die Frage nach dem letzten Einheitsgrund der Gegensätze jedenfalls trägt einen fundamentalen Gnadenindex und ist eschatologisch offen: Wir können ihn weder machen noch können wir ihn festhalten. Vor diesem Hintergrund erscheinen an Canos Diskursmodell der loci theologici110 mindestens drei Sachverhalte zukunftsweisend: ihr unabgeschlossener Plural der decem loci, ihre unaufhebbare Differenz von loci proprii und loci alieni sowie ihre hierarchisierte Dezentrierung zwischen loci constituentes und loci interpretandes. Ein solches konstellatives Denken ermöglicht eine Topik des Pluralen, die spätmodernem Theorieniveau entspricht. In einer bei Thomas Freyer entstandenen systematisch-theologischen Dissertation heißt es dementsprechend:

      „Die ‚Methode‘ meiner Arbeit habe ich als Topik gekennzeichnet, die ein Gelände aus verschiedenen Perspektiven beschreibt. Sie ergänzen sich, sind aber nicht voneinander abhängig. […] Der Zusammenhang, für den ich hier verantwortlich zeichne, hat den Anspruch, […] für weitere Orte offen zu bleiben. […] [Die alternative, Ch. B.] […] Möglichkeit steht für mich grundsätzlich in Zweifel, […] die Wirklichkeit des Glaubens […] von einem Standpunkt – einem Ort – aus als vernünftig auszuweisen.“111

      Auch de Certeau, ein theologischer ‚Doppelgänger‘ Foucaults, der in kulturwissenschaftlichen Kreisen längst vom Geheimtipp zur Pflichtlektüre avanciert ist, spricht von „theologischen Orten“112. Dabei zieht der spätmoderne Jesuit aus Frankreich jedoch ungleich radikalere Konsequenzen aus der pluralen Differenz der loci theologici als der frühneuzeitliche Dominikaner aus Spanien:

      „Autorität im Singular […] schließt […] ein Wissen in sich selber ein. Autoritäten im Plural hingegen lassen anderes zu. […] Eine Autorität […] zeigt sich darin, dass sie nicht ohne [pas sans] andere sein kann. […] Es gibt die Schrift, aber auch die patristische Tradition. Den Papst, aber auch das Konzil. Und so weiter. […] Christliche Autorität schafft einen Raum […]. Sie macht Differenzen möglich. […] Die kommunitäre Manifestation des Unendlichen […] ist durch eine Pluralität von Autoritäten repräsentiert, die […] denjenigen stets neu aussagen, der sie ermöglicht hat: Jesus Christus. […] Jede Gestalt von Autorität in der christlichen Gemeinschaft ist markiert von der Abwesenheit dessen, was sie begründet. Sei es die Schrift, die Traditionen, das Konzil, der Papst oder alle anderen: was sie erlaubt [permet], ist das, was ihr fehlt [manque]. […] Denn als Autorität reichen weder der Papst, noch die Schrift, noch diese oder jene Tradition allein aus: ihr fehlen die anderen.“113

      In diesem Zitat wird eine analytische Dreiheit deutlich, die für das Zueinander theologischer Orte in der Spätmoderne von entscheidender Bedeutung ist: manquerpermettresans pas. Jedem theologischen Ort ‚fehlen‘ (manquent) auf konstitutive Weise alle anderen. Dieses Fehlen ist ein ‚Manko’114, das eine prinzipiell unendliche Serie von neuen Orten ‚gestattet’115 (permet). Diese Orte sind jedoch nicht komplett ungebunden, sondern in der lebendigen Tradition der Kirche auf alle anderen bisherigen und zukünftigen angewiesen. Denn sie können ‚nicht ohne’116 (sans pas) diese anderen Instanzen der Glaubensbezeugung sein. Mit Martin Walser gesprochen: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“117 Oder zumindest ohne sein Gegenstück. Theologische Orte sind irreduzibel und zugleich auch inkommensurabel: Man kann sie weder aufeinander zurückführen noch untereinander verrechnen. Aber man kann sie so miteinander verbinden, dass ihre wechselseitige Relativierung Offenbarungsgehalt im Sinne zweier Dogmatischer Konstitutionen der beiden Vatikanischen Konzilien gewinnt: Dei filius (1870) und Dei verbum (1965). Ein nexus mysteriorum inter se (DH 3016) entsteht, dessen Strukturformat spätmodernen Anforderungen gerecht wird:

      „Es zeigt sich […], dass die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche […] so miteinander verknüpft [inter se connecti] […] sind, dass sie ohne die jeweils anderen nicht bestehen können [sine aliis non consistant] und dass alle zusammen [omniaque simul] […] einen wirksamen Beitrag zum Heil der Seelen leisten.“ (DV 10)

       5. Provokation zu Eigenem

      Spätmoderne Theorieangebote stellen keine praktisch-theologischen Kopiervorlagen dar, sondern vielmehr eine Provokation zu Eigenem. Es geht um eine Wiederentdeckung von verschütteten Differenzpotenzialen in dem „Versuch, Differenzen dort aufzumachen, wo gemeinhin Identitäten gewähnt werden“118:

      „Vielleicht lässt sich […] auf dem Boden der Theologie selbst […] ein Weg finden, sich der Postmoderne-Thematik angemessen zu nähern. […] Stellt nicht gerade der christliche Gottesbegriff eine Möglichkeit dar, Einheit zu denken, ohne totalitär zu werden, Vielheit aber, ohne die Differenz in kontrastloser Indifferenz […] untergehen zu lassen? […] Vom christlichen Gottesbegriff her […] ist Vielheit Reichtum, totalisierte Partialität aber Sünde: die klassische Sünde der Auflehnung gegen Gott. Denn nur er ist der Eine; es macht den christlichen Glauben aus, dieses Eine als das zugleich Viele und […] Nichttotalitäre zu denken.“119

      Entsprechende „differenzhermeneutische Spurenelemente christlicher Theologie120 führen zu einem „Ausfindigmachen von Momenten des Widerstreits“121 in der Theologie selbst und damit auch zu „Theologien, deren Gedankengänge sich nicht dem Rhythmus der Moderne anbiedern, stattdessen aber in der Auseinandersetzung mit der Postmodernediskussion eine ureigene […] Thematik neu entdecken“122.

      Eine in diesem Sinne spätmoderne Praktische Theologie wird den handlungstheoretischen Konsens123 hinter sich lassen und sich ihrem methodologischen Dreischritt gemäß124 weiter ausdifferenzieren: in eine empirische Pastoraltheologie, die mit Neugierde und Leidenschaft die eigene Gegenwart erkundet („Sehen“), eine kritische Pastoraltheologie, welche die theologische Urteilskraft des Volkes Gottes schärft („Urteilen“) und eine pragmatische Pastoraltheologie, die das Gespräch mit kirchlichen Verantwortlichen sucht („Handeln“):

      „Man kann grundsätzlich von einer wechselseitigen […] Ergänzung der verschiedenen praktisch-theologischen Ansätze ausgehen. Eine solche Multiperspektivität ermöglicht erst eine angemessene Analyse der Vielschichtigkeit religiöser Ausdrucksformen in der Spätmoderne.“125

      Ein intradisziplinäres Gespräch dieser fachinternen Multiperspektivität ist eine Herausforderung, die das ganze Fach intellektuell neu beleben könnte – zumindest dann, wenn theologische Intellektualität die „Fähigkeit meint, die Wirklichkeit gleichzeitig aus mehr als einer Perspektiven zu sehen“126:

      „Sie stellt alles in Frage, denn sie hat mit den ersten und letzten Dingen zu tun und kann von ihnen nicht lassen, hat sie aber eben auch alles andere als in der Hand – und weiß es auch noch. […] Betrachtet man dann auch noch die […] diachrone [bzw. synchrone, Ch. B.] Komplexität der Theologie, […] geraten die Dinge ins Tanzen. Wo wächst größerer Perspektivenreichtum? Komplexität wohin man blickt […]. Als Katholik bin ich gezwungen, mich ihnen [den Differenzen der eigenen kirchlichen Tradition, Ch. B.] zu stellen: jenen, auf die ich stolz bin, wie den anderen […]. Das alles ist ein einziger Problemgenerator. Und nicht der unintelligenteste.“127

       6. Pluralitäten kultivieren

      Der soziale Körper des Volkes Gottes ist längst von einem Plural von differenten Idealtypen des Kirchlichen durchzogen – in unsystematischer Reihung ein Kaleidoskop von älteren und neueren Versuchen einer Zuordnung:

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