Der fremde Gott. Hans-Joachim Höhn
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Was aber bleibt von den traditionellen Gottesbeschreibungen übrig, wenn das Wort „Gott“ nicht mehr für den transzendenten Grund des Seins oder für den Maßstab für die Bestimmung moralischer Maßstäbe steht? Gehören sie ins Archiv, ins Antiquariat der religiösen Sprache? Was soll man tun, wenn diese Hauptwörter der Theologie nichts mehr benennen und darum nichts mehr bedeuten? Nach einem ebenso als Kritik (an überkommenen theologischen Redeformen) wie als Aufruf (zu einer Erweiterung der theologischen Grammatik) interpretierbaren Wunsch Kurt Martis bleibt die Möglichkeit übrig, „daß Gott ein Tätigkeitswort werde“. In den überflüssig gewordenen Substantiven sollen Verben entdeckt werden, die Gott als Ereignis einer bestimmten Praxis buchstabieren. Wer „verbalisieren“ will, um was es im Glauben geht, darf keinen Nominalstil pflegen. Damit ist mehr gemeint, als dass sich die Bedeutung des Wortes „Gott“ aus seinem praktischen Gebrauch ergibt. Im Zentrum steht die Überzeugung, dass dieses Wort etwas zu tun und nicht bloß zu denken gibt: Man kann nicht an Gott glauben und untätig bleiben. Die Praxis des Evangeliums ist der Weg, sich die Wahrheit des Gottesgedankens „einzuhandeln“. In einer Zeit, da der Gottesgedanke für etwas steht, das undenkbar geworden ist, scheint ein möglicher Ausweg darin zu bestehen, seine Plausibilität über eine spezifische Praxis zu erweisen. Danach hat sich auch die Sprachform des Glaubens und der Theologie zu richten. Auch hier regiert der Primat der Praxis. Praxisrelevante Aussagen sind in der Regel normative oder präskriptive Aussagen, d. h. Sätze über das, was zu tun ist. Hier heißt es „Gesagt – getan“. Wer davon überzeugt ist, muss die Gottesrede in der Tat „entsubstantivieren“ und Verben verwenden.
Aber auch dieser Ansatz wirft Fragen auf, die sich auf dem Wege der Praxis allein nicht beantworten lassen. Wie lässt sich denken, dass im Tun des Menschen Gott selbst am Werk ist? Ist nicht bei allem, das in der Welt getan wird, erwiesen, dass es das Werk des Menschen ist? Ist es am Ende nur ein intentionales „als ob“ auf Seiten des Menschen, das Gott noch ins Spiel bringt – gemäß der ignatianischen Maxime „Gib Dir in Deinem Tun solche Mühe, als ob der Erfolg Deines Tuns allein von Dir und nicht von Gott abhinge. Vertraue jedoch dabei so auf Gott, als ob Du selbst nichts, Gott allein alles vollbringen werde“?25 Wie göttliches Handeln denkbar ist, lässt sich nicht ablösen vom Problem der Denkbarkeit Gottes. Es handelt sich dabei um ein Problem, das von der christlichen Dogmatik mit ihrem Insistieren auf der Transzendenz Gottes noch verschärft wird. Wegen seiner schlechthinnigen „Jenseitigkeit“ und „Welttranszendenz“ kann Gott von der Sprache nicht ergriffen werden. Mit ihren Begriffen kann ihn der Mensch denkerisch nicht „im Griff haben“. Doch wenn Gott nur als unbegreifbar denkbar ist, muss dann das Denken im Blick auf Gott am Ende nicht resignieren? Ist das Ende des Gottesgedankens als eines dann im Grunde etwas Undenkbares denkenden Gedankens nicht notwendig die Resignation? Und ist die Geschichte des Gottesgedankens zurzeit nicht an ebendiesem resignierenden Ende angekommen?
Solche Resignation würde aber nicht nur das Denken betreffen. Es hat praktische Folgen. Wie nämlich soll man den christlichen Glauben tun können, wenn man Gott nicht mehr zu denken vermag und ebendeshalb sich selbst als an Gott Glaubenden nicht mehr verständlich machen kann? Ein derart unverständiger Glaube lässt sich nicht mehr von Unvernunft und Aberglaube unterscheiden. Wer etwas Undenkbares als zu glauben ausgibt, bringt sich und andere letztlich um den Verstand. Es bedarf eines neuen Anlaufs, um zu zeigen, dass die Feststellung der Undenkbarkeit Gottes nicht das Ende eines jeden theologischen Denkens markiert, sondern nur die Grenze einer bestimmten theologischen „Denkungsart“ anzeigt. Erst wenn wieder denkbar wird, wo und wie in der Praxis des Menschen sich ein Handeln oder eine Präsenz Gottes ereignet, kann K. Martis Wunsch in Erfüllung gehen. Erst dann wird das, wofür das Wort „Gott“ steht, wieder antreffbar in der Lebenswelt des Menschen. Gleichwohl findet seit etlichen Jahren eine derart praxisorientierte Gottesrede immer weniger Resonanz. Zu nahe scheint dieser Sprachstil an einer moralisierenden Glaubensrede zu sein. Zu rasch scheint sich hier die Theologie in eine Dublette der Ethik zu verwandeln. An solchen Doppelungen besteht aber nur wenig Bedarf. Viele säkulare Zeitgenossen scheinen an Moral genug zu haben. Wird ihnen zusätzlich eine christliche Moral angesonnen, tauschen sie das, wovon sie genug oder zu viel haben – Moral – gegen das ein, was ihnen fehlt: mystische Innerlichkeit, vielleicht auch fernöstliche Weisheit oder esoterische Lebenskunst …
Hinzu kommt, dass sich auch für viele sozial und politisch engagierte Christen eine Hoffnung nicht erfüllt hat, die sie in dieses Engagement gesetzt haben: dass es zum Ort und Ereignis einer Erfahrung der Nähe und des (Mit)Wirkens Gottes werde. Sie haben sich wund gerieben an Idealen, die es eigentlich verdient haben, Realität zu werden. Das „Reich Gottes“ sollte für sie keine bloß jenseitige Größe sein. Sie wollten den Himmel erden und zeigen, dass das „ewige Leben“ auch schon vor dem Tod beginnt. Aber diese Ziele scheinen eine Utopie zu bleiben. Es ist vielen Christen in ihrem Einsatz nicht erspart geblieben, der Erfahrung der Vergeblichkeit und der Übermacht des schicksalhaften und machbaren Todes ausgesetzt zu werden. Etliche Christen können ihren Glauben nur noch leben als eine Widerstandshaltung gegen die Umstände eines „etsi deus non daretur“. Ähnlich mag es den Verfechtern einer tiefenpsychologischen Glaubensauslegung ergehen. Ihre Transzendenz nach innen wird sie ins innere Ausland führen; im besten Fall wird der Abstand zwischen ihrem Ich und ihrem wahren oder besseren Selbst verringert. Aber werden sie am Ende dort etwas antreffen, das die Bezeichnung „Gott“ verdient?
Der Gottesgedanke scheint in Theorie und Praxis die Qualität verloren zu haben, etwas Alternativenloses zu bezeichnen. Weder für das Denken noch für das Tun des Menschen scheint er etwas zu bezeichnen, das als „conditio sine qua non“ seines Denkens und Handelns angesprochen werden muss. Folgt man dem Anspruch der Aufklärung, dann darf es hierzu auch keine Alternative geben. Sie hat die Losung ausgegeben: Oberste Instanz verantwortlicher Lebensführung, zuverlässiger Weltorientierung und unhintergehbarer Erkenntnisbegründung muss die Vernunft in ihrer Autonomie sein. Ihre Autonomie verlangt die Lösung von den Autoritäten der Tradition und den Widerspruch gegen ihre Auffassung, dass die Vernunft nochmals eine Autorität über sich habe, von der sie Wahrheiten, die ihr selbst unerreichbar sind, auf dem Wege der „Offenbarung“ entgegenzunehmen habe.26 In Fragen der Erkenntnis und Gestaltung der Welt gilt es, sich nur den Imperativen der Vernunft zu unterstellen. Was mit den Mitteln der Vernunft zureichend bewältigt werden kann, darf nicht an eine andere Instanz delegiert werden. Was an eine andere Instanz abgegeben wurde, muss der Vernunft und ihrem Subjekt zurückgegeben werden. Nicht zuletzt dafür plädierten die „klassischen“ neuzeitlichen Religionskritiken, die bis in die Gegenwart mit ihren Leitthesen in Stellung gebracht werden:27
• Alles, was der Mensch übernatürlichen Mächten und Gewalten zugeschrieben hat, muss ihm zurückerstattet werden, weil es ursprünglich ihm zukommt und Teil seines ur-eigenen Vermögens ist (L. Feuerbach).
• Alles, was der Mensch an Trost angesichts trostloser Lebensumstände bei der Religion gesucht hat, muss als billige Vertröstung entlarvt werden, weil es die Veränderung der Verhältnisse blockiert (K. Marx).
• Alles, was der Mensch „über“ sich wähnt, verhindert die Reifung dessen, was er „in“ sich hat, und lässt ihn „infantil“ bleiben (S. Freud).
Der Gottesgedanke wird als Projektion der dem Menschen eigenen Entwurfs- und Verwirklichungsmacht auf ein fiktives Außerhalb kritisiert. Hat der Mensch seine Potenz ganz erfasst, wird diese Projektion überflüssig und zum Störfaktor, der die Selbstverwirklichung der Vernunft hemmt. Glauben erscheint als eine rational nicht gedeckte Haltung, die vom Menschen aufgegeben werden muss, will er zu sich selbst kommen. Aussagen über „Transzendenz“ erscheinen als überflüssige Zusatzbehauptung zur tatsächlich erfahrbaren Wirklichkeit. Religiöse Rede von Gott unterliegt folglich dem Sinnlosigkeitsverdacht.
Das Autonomieideal der Moderne verlangt vom Menschen, in allen Fragen der Wirklichkeitserkenntnis und der Lebensgestaltung nur den Imperativen der Vernunft zu folgen. Mit dieser Aufforderung geht kein neues Zwangsregime