Kreative Leibtherapie. Udo Baer

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Kreative Leibtherapie - Udo Baer Semnos Lehrbuch

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die Welt zu schreiten, wird sich nicht mehr mit der geduckten Haltung begnügen. Wir erlebten, dass Menschen mit Demenz, die mit Worten nicht oder kaum noch ansprechbar waren, über kreative Dialoge Fähigkeiten zeigten, die niemand mehr vermutet hätte. Doch all solche Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu begleiten, bedurfte therapeutischer Kompetenzen, die über die künstlerischen Fähigkeiten hinausgingen. Wir nannten diese Kompetenzen, die wir entwickelten und vermittelten, damals Kreative Sozialtherapie und initiierten dafür auch die Gründung eines Verbandes gemeinsam mit anderen Ausbildungsinstituten, die in den 90er-Jahren Therapie für die Arbeit im sozialen Feld nutzbar machen wollten.

      Die Erweiterung unserer Praxis im Gesundheitsbereich sowie im Bildungsund Sozialwesen konfrontierte uns in der Folgezeit mit zwei Schwierigkeiten. Die erste bestand darin, dass wir oft mit dem uns zur Verfügung stehenden methodischen Repertoire nicht zufrieden waren und neue Wege beschreiten mussten. Wir gaben uns auch nicht damit zufrieden, wie es damals üblich war, kreative Methoden vor allem als Warm-Ups zu benutzen, um dann die „eigentliche” therapeutische Arbeit mit den klassischen Methoden der Gestalttherapie oder anderer Verfahren durchzuführen. Wir waren uns sicher und die Erfahrungen bestätigten uns, dass in den künstlerischen Prozessen viel mehr therapeutisches Potential vorhanden war, als damals genutzt wurde, und versuchten, dieses zu entwickeln. Die zweite Schwierigkeit bestand darin, dass im zunehmenden Maße die theoretischen Modelle mit den Erfahrungen, die wir machten, nicht mehr übereinstimmten. Viele Worte passten nicht und wir suchten neue Begriffe. Viele Erklärungszusammenhänge und handlungsleitende theoretische Modelle erwiesen sich bezogen auf unsere Erfahrungen als unzureichend. Dies umso mehr, als unsere Aktivitäten sich damals verstärkt auf das Feld der Psychotherapie erweiterten und nun auch Angebote im klinischen Kontext stattfanden.

      So fand dieser Entwicklungsprozess um das Jahr 2000 herum seinen Ausdruck darin, dass wir unseren Ansatz als „Kreative Leibtherapie” bezeichneten. Die Bezeichnung „kreative Gestalttherapie” passte nicht mehr, wir hatten uns aus der Gestalttherapie heraus entwickelt. Parallel dazu hatte sich das theoretische Konzept des Fritz-Perls-Instituts zur Integrativen Therapie entwickelt und das FPI sich in seinem Selbstverständnis aus der humanistischen Psychologie verabschiedet – ein Weg, den meine Frau, ich und unsere engsten Kolleg/innen nicht mitgehen wollten. Wir publizierten Praxisberichte und theoretische Beiträge auch unserer Kolleg/innen und Fortbildungsteilnehmer/innen 15 Jahre lang in unserer Zeitschrift (erst „Sozialtherapie”, später „therapie kreativ”) und gaben Sammelbände wichtiger Artikel heraus. 1999 erschien schließlich mein erstes Fachbuch („Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder ...”), das nicht nur ein Sammelband war, sondern unseren damaligen theoretischen Stand beschrieb und vor allem die von mir entwickelten kunst- und gestaltungstherapeutischen Methoden vorstellte. In die späteren Auflagen (und die folgenden Fachbücher) flossen die nach der Erstausgabe entwickelten leibtherapeutischen Modelle ein.

      Ich war vorher schon intensiv auf der Suche nach einer für uns und in sich stimmigen Theorie gewesen und fand 2000 mit dem damals erschienen Buch „Leib-Raum-Person” von Thomas Fuchs einen uns überzeugenden philosophischen Boden. Hier und im Gefolge dessen in zahlreichen anderen Werken der Leibphänomenologie, die wir teilweise über die Auseinandersetzung mit dem Leibbegriff Hilarion Petzolds kannten, aber jetzt noch einmal in dem neuen Kontext studieren konnten, fanden meine Frau und ich Ansätze und Begrifflichkeiten, um unsere praktischen Erfahrungen in Worte zu fassen. Diese leidenschaftliche Auseinandersetzung war ein Ringen um Worte, die den inneren Zusammenhang dessen, was wir praktisch-therapeutisch taten, ausdrückten. Wir merkten, dass mit jeder „gelingenden” Begrifflichkeit auch unsere Praxis besser wurde und wir uns Klient/innen wie auch Teilnehmer/innen unserer Fortbildungen verständlicher machen konnten. Parallel beschäftigte ich mich mit der modernen Neurobiologie, der Säuglingsforschung und der sonstigen Entwicklungspsychologie und arbeitete die Erkenntnisse heraus, die für die therapeutische Praxis und Theoriebildung relevant und nützlich waren und sind. Gleichzeitig setzten meine Frau und ich unsere eigenen Untersuchungen zu den Erlebensprozessen künstlerischer Aktivitäten fort, um das Potenzial zu benennen und therapeutisch zu nutzen, das künstlerischen Prozessen innewohnt. All dies fand seinen Niederschlag in den nach 2001 erschienenen Lehr- und Studienbüchern, wobei sich unser Ansatz der „Kreativen Leibtherapie” immer mehr herausschälte.

      Im Jahr 2011 entstanden der Wunsch und die Aufforderung, die Modelle und theoretischen Grundlagen der Kreativen Leibtherapie zusammenzufassen und als Lehrbuch zu veröffentlichen, das nun, 2012, erscheint.

      Zu Inhalt, Struktur und Gestaltung dieses Lehrbuches ist einiges voranzuschicken:

       Da es sich um ein Lehrbuch handelt, das vor allem die theoretischen Grundlagen und Essenzen Kreativer Leibtherapie zur Verfügung stellen soll, sind viele Inhalte knapp dargestellt. Es gibt weniger Praxisbeispiele und methodische Darstellungen als in den bisherigen Veröffentlichungen. Diesbezüglich möchte ich auf unsere anderen Publikationen verweisen.

       Ich beginne im Aufbau des Buches mit dem Herzstück, meinem Leibverständnis und dessen Konsequenzen für die Therapie. Üblicherweise entwickeln sich Lehrbücher über Darlegungen zur Wissenschaftstheorie von der Vorgeschichte zu den therapeutischen Quellen allmählich hin zu den Kerninhalten. Wer diesen Weg der Annäherung vorzieht, möge bitte die Lektüre mit Kapitel 7 und 8 beginnen. Ich schlage vor, sich gleich in das Zentrum des Denkens und Geschehens zu begeben, und habe deswegen die Gliederung gewählt, mit dem Kapitel über „Leiblichkeit – Menschenbild und Therapie” zu beginnen, das die weitreichendste Relevanz für die Entwicklung der Kreativen Leibtherapie hat. Beide Wege sind möglich.

       Therapie dient der Veränderung von Mustern, unter denen Menschen leiden. Im Kapitel 3 finden Sie unser Verständnis von Musterbildung und Musterveränderung und dabei auch unsere leiborientierten Entwicklungsmodelle, die der Theorie und Praxis Kreativer Leibtherapie zugrunde liegen.

       Üblicherweise gibt es in therapeutischen Lehrbüchern getrennte Kapitel über die theoretischen Modelle des Menschen, dann über die Diagnostik, dann über die Therapie. Eine Besonderheit Kreativer Leibtherapie besteht darin, dass in unseren therapeutischen Modellen diese verschiedenen Aspekte miteinander verknüpft sind: Sie sind gleichzeitig Landkarten für Erlebensprozesse, diagnostische Zugänge und therapeutische Pfade. Ich habe deswegen das Bild eines Hauses gewählt, das aus zehn Räumen besteht. In jedem dieser Räume ist ein zentrales Modell der Kreativen Leibtherapie enthalten, und Sie können sich den Räumen dieses Hauses über verschiedene Türen und damit Zugängen nähern, über den theoretischen, den diagnostischen und den therapeutischen. Deswegen folgt auf die Beschäftigung mit der Leiblichkeit und damit den Verbindungen von Menschenbild und Therapie das Kapitel der „Komplexen Theorie-Module: The Big Ten”, das die zehn wesentlichen Modelle der Kreativen Leibtherapie darstellt und dabei gleichzeitig deren theoretischen Hintergrund, den diagnostischen Nutzen und die Bedeutung in der Therapie erläutert.

       In Kapitel 5 gehe ich auf einige häufige Pathologien von der Depression bis zu den Traumafolgen ein und beschreibe ein leibphänomenologisches Verständnis und daraus abgeleitete spezifische Wege therapeutischer Begleitung. Diese beziehen jeweils mehrere der Big-Ten-Modelle ein.

       Ich werde mich dann in Kapitel 6 mit Wegen der therapeutischen Veränderung und Elementen des therapeutischen Prozesses beschäftigen, um dabei spezifische, kreative leibtherapeutische Erfahrungen, Vorstellungen und Konzepte darzustellen. Dies ist notwendigerweise unvollständig, weil es sonst den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Ich habe diejenigen Themen ausgewählt, die wesentlich und charakteristisch für die Kreative Leibtherapie sind.

       Zum Schluss, nach dem Kapitel über Quellen Kreativer Leibtherapie, werde ich in Kapitel

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