Die Akademisierungsfalle. Rudolf H. Strahm
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Rudolf H. Strahm, Dr.h.c.
CH-3037 Herrenschwanden (Schweiz), Juni 2014
INHALTSVERZEICHNIS
1. Warum nicht alle studieren müssen und warum die Berufslehre top ist
2. Länder in der Akademisierungsfalle
Der missverstandene Trend zur «Wissensgesellschaft»
3. Das Berufsbildungssystem Schweiz
Im Clinch zwischen Bologna und Exzellenz
5. Fachkräftemangel und Bildungspolitik
Im Zeichen der Personenfreizügigkeit
6. Bekämpfung und Prävention von Armut durch Berufsbildung
Elemente einer aktivierenden Sozialpolitik
In diesem Buch werden die neuen gesetzlichen und die umgangssprachlichen Begriffe des Berufsbildungssystems gleichwertig verwendet. «Lehrling» und «Lernende/r» (neu) ist gleichwertig. Ebenso «Lehrabschlussprüfung» (LAP) und «Qualifikationsverfahren» (neu) sollen weiterhin als gleichbedeutend gelten usw.
Die meisten Daten in diesem Buch stammen aus den offiziellen Statistiken von BFS, SECO, Eurostat, OECD. Die Datenquellen zu den Grafiken und zu den Referenzen (Fussnoten) im Text sind jeweils am Kapitelende aufgeführt.
Das Abkürzungsverzeichnis befindet sich am Schluss des Buchs.
1
Warum nicht alle
studieren müssen
und warum die
Berufslehre top ist
Eine Auslegeordnung
Wir schreiben das Jahr 2014. Nach Jahren der Krise und des Gürtel-enger-Schnallens ein Jahr der behutsamen Wirtschaftserholung in Europa. 20,6 Millionen erwachsene Menschen über 25 Jahre, die einen Erwerb suchen, sind in der Europäischen Union als Arbeitslose registriert.1 Von den Ausgesteuerten gar nicht zu reden.
Aber noch tragischer: 5,5 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren, die in den 28 EU-Ländern leben und nicht gerade in einer Ausbildung stecken, waren Anfang 2014 arbeitslos.2 Ein Drama. Wir lesen zwar täglich Schlagzeilen über die Finanzmarktkrise und ihre Folgen, aber nur selten über die Tragik und Perspektivlosigkeit von Millionen Jugendlicher auf diesem Kontinent und über die Langzeitfolgen.
Beschäftigungskluft entlang der Berufsbildungsgrenze
Eine Kluft im Niveau der Arbeitslosigkeit geht durch Europa. Sie entspricht nicht dem üblicherweise beklagten Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa (das es auch gibt). Die Kluft ist viel markanter zwischen den Ländern mit einem Berufsbildungssystem und jenen Ländern, die nur vollschulische Bildungsgänge und keine Berufslehre kennen. Die ► Grafik 1.1 macht das Drama der hohen Jugendarbeitslosigkeit augenfällig. Sie zeigt zugleich, dass fünf Berufsbildungsländer mit einer dualen Berufslehre (orange markiert) signifikant besser dastehen als die Länder ohne duale Berufsbildung und mit ausschliesslich vollschulischen Ausbildungsgängen.3 Unter «dualer Berufsbildung» verstehen wir die Kombination von betrieblicher Berufslehre und staatlichen Berufsfachschulen.
Grafik 1.1
Während die fünf Berufsbildungsländer Schweiz, Deutschland, Österreich, Niederlande und Dänemark im ersten Quartal 2014 eine durchschnittliche Jugendarbeitslosenquote von 9 Prozent verzeichneten, lag sie im Durchschnitt aller 28 EU-Mitgliedsländer bei 23 Prozent – also zweieinhalb Mal höher! Die Schweiz figurierte mit rund 7 Prozent als das Land mit der tiefsten Erwerbslosenquote unter den Jugendlichen.
In der ► Grafik 1.2 zeigen wir nur die wirtschaftlich vergleichbaren Industrieländer Westeuropas. Dabei verwenden wir zwei unterschiedliche Messgrössen für die Jugendarbeitslosigkeit für das Jahr 2012: Sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Definitionen der Erwerbsbevölkerung.4, 5
Bei den Schweizer Zahlen zur Jugenderwerbslosenquote von rund 6 bis 8 Prozent sind alle vorübergehend nicht Erwerbstätigen mitgerechnet. Allerdings liegt die Quote der registrierten arbeitslosen Jugendlichen, die Arbeitslosengeld beziehen, nur gerade bei 3 bis 4 Prozent der Erwerbstätigen6. In der Schweiz schwanken die Zahlen der erwerbslosen Jugendlichen stark saisonal.