Die permanente Krise. Marc Chesney

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Die permanente Krise - Marc  Chesney

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Überleben ist ein ständiger Kampf.

      Gleichzeitig erzeugt im Nahrungsmittelsektor die ungezügelte Spekulation eine Lebensmittelunterversorgung für zahlreiche afrikanische Länder. Gemäß einem Bericht der FAO13 litten zum Beispiel im Jahre 2008 mehr als 900 Millionen Menschen an Unterernährung. Die weltweite Getreideerzeugung in diesem Jahr hätte jedoch leicht ausgereicht, um den Bedarf aller Menschen abzudecken.14 Heute verhungern jeden Tag ungefähr 25 000 Menschen, davon 8600 Kinder.15

      Auch Amerika ist zum Schauplatz dieses ausgedehnten Krieges geworden, unter dem ein Großteil der Amerikaner leidet. Zahlreiche Ingenieure, Informatiker, Juristen, Physiker und Mathematiker, die die USA dringend brauchen würden, werden von der Wall Street aufgesogen. Die Subventionen und Vorteile aller Art, die den großen Banken und den Spekulationsfonds16 zufließen, erlauben es ihnen, diesen Spezialisten Spitzengehälter zu zahlen.

      Die so verschwendeten intellektuellen Ressourcen und öffentlichen Mittel fehlen in den für die Bevölkerung wesentlichen Bereichen. Die Erneuerung der Infrastruktur, beispielsweise der Eisenbahnen oder Flughäfen, sollte eigentlich Priorität haben, da sie den Bedürfnissen einer großen Mehrheit entspricht, die weder über Helikopter noch über Privatjets verfügt, um sich fortzubewegen. In die Gesundheit und die Bildung zu investieren, sollte eine weitere Priorität darstellen. Spitäler, Schulen und öffentliche Universitäten benötigen ganz offenkundig beträchtliche finanzielle Mittel.17 Brücken, Kanalisationssysteme, Staudämme18 zu unterhalten und zu sichern, dies alles fällt in die Zuständigkeit einer Regierung. Unglücklicherweise treten diese Aufgaben in den Hintergrund. Der Finanzsektor tut alles, damit seine Interessen an erster Stelle kommen. Zwischen 1998 und 2008 wurden seitens des Finanzsektors 1,7 Milliarden Dollar ausgegeben, um Wahlkampagnen seiner Verbündeten zu finanzieren, und 3,4 Milliarden für Lobbyarbeit.19 Gemäß Fortune Magazine20 hat die Wall Street 2 Milliarden Dollar bezahlt, um die Wahlen der USA von 2016 zu beeinflussen, sowohl diejenige des Präsidenten als auch diejenigen der Senatoren sowie des Repräsentantenhauses. Dieses Investment war gut diversifiziert, da sowohl die Wahlkampagne der Republikaner, insbesondere von Donald Trump, als auch jene der Demokraten, also von Hillary Clinton, unterstützt wurden. 55 % der Gelder gingen an die Ersteren, 45 % an die Zweitgenannten. Die Beiträge von Großbanken wie Wells Fargo, Citibank und Goldman Sachs beliefen sich jeweils auf 12 bis 15 Millionen Dollar. Was JPMorgan Chase, Bank of America und Morgan Stanley betrifft, handelt es sich um 10 Millionen Dollar je Institution. Auch Hedgefonds blieben nicht untätig. So hat zum Beispiel Renaissance Technology 53 Millionen Dollar «gespendet». Die UBS ist auch betroffen. Gemäß der «NZZ am Sonntag» haben «Angestellte von UBS Americas […] der laufenden Wahlkampfperiode über das bankeigene PAC bereits fast 1 Mio. $ gespendet. 591 750 $ flossen an Republikaner, nur 388 500 $ an Demokraten.»21

      Die Wall Street will im Krieg gegen die Main Street ihre Stellungen halten. Das Wachstum des Finanzsektors ist für die Wirtschaft und die Gesellschaft gefährlich. Im Zeitraum von wenig mehr als einem halben Jahrhundert, von 1950 bis 2006, ist der Finanzsektor in den USA von 2,8 % auf 8,3 % des BIPs gewachsen.22 Dieser Zuwachs hat das wirtschaftliche und soziale Ungleichgewicht verschärft und ist 2008 in eine Krise gemündet, die andauert und deren chronische Erschütterungen die Gesellschaft ins Wanken bringen, in den USA genauso wie in den anderen Ländern.

      Zu Anfang des Jahres 2005 zeigte sich dieser Finanzkrieg in Brasilien in einer besonderen Ausprägung. Das Land war nicht mehr flüssig, aber in der Grundbedeutung des Begriffes. Es geht um das Wasser, ein lebensnotwendiges Gut! Der Südosten Brasiliens litt unter einer besorgniserregenden Trockenheit. Die Wasservorräte befanden sich auf historischem Tiefstand. Zwei Phänomene erklären diese Situation: Zum einen war die Niederschlagsmenge zu gering, zum anderen verschwand das Regenwasser in den defekten Abwasserkanälen. Es ist wahrscheinlich, dass die andauernde Abholzung des Regenwaldes im Amazonas der eigentliche Grund für die außergewöhnliche Trockenheit im Südosten Brasiliens war. Hinsichtlich des zweiten Phänomens hat die für die Wasserversorgung von São Paulo zuständige Gesellschaft Sabesq seit zahlreichen Jahren nicht ernsthaft in die Kanalisation investiert. Sie zieht es vor, große Dividenden auszuschütten, statt Geld für die Modernisierung des Wasserversorgungsnetzes auszugeben. Zwischen 2007 und 2014 betrugen die Profite dieser Firma, einer der rentabelsten des Landes, ungefähr 10 Milliarden Real, das heißt 3,23 Milliarden Euro oder 3,4 Milliarden Schweizer Franken. Von diesem Betrag ging ungefähr ein Drittel an die öffentlichen und privaten Aktionäre. Derartige Dividenden sind in diesem Sektor selten. Das, was von den Profiten übrig blieb, wurde nicht wirklich verantwortungsvoll investiert. Der Prozentsatz an Wasserverlust durch Versickerung lag in São Paulo bei 36 %, was 435 Milliarden Litern jährlich entspricht! Für Sabesq gilt: Investitionen in den Unterhalt der Kanalisation würden die kurzfristigen Profite schmälern; der Wasserverlust durch leckende Leitungen dagegen verursacht nur unerhebliche Kosten. Die Boni der Direktoren orientieren sich lediglich an den erwirtschafteten Profiten, ohne dass der geringste Effizienzindikator zur Anwendung käme.23

      Die Ursache für beide Phänomene ist die auf kurzfristige Ergebnisse eingestellte Finanzlogik. Sie entspricht den Interessen einer Elite, die zu häufig korrupt ist, und dies zum Nachteil der Grundbedürfnisse der Bevölkerung.

       Wie es so weit gekommen ist

      Von 1814 bis 1914, also vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erlebte die Menschheit ein Jahrhundert des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritts, der in der Geschichte einzigartig war. Die nachfolgenden hundert Jahre konnten die Erwartungen jedoch nicht erfüllen. In Kriegen und anderen Konflikten starben mehr als 200 Millionen Menschen:24 Auf den Ersten Weltkrieg folgte die Weltwirtschaftskrise 1929, die fürchterliche Diktaturen hervorbrachte, hauptsächlich in Deutschland und der UdSSR, aber auch in Italien, Spanien und Japan. Durch die Erstarkung dieser Diktaturen kam es zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit seinen Blutbädern und Todeslagern. Das Ende des Zweiten Weltkriegs – mit der Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis durch die USA – markierte den Eintritt der Menschheit – oder dessen, was noch davon übrig war – in ein neues Zeitalter: das der militärischen und zivilen Nutzung der Atomkraft und der Konfrontation der beiden Supermächte USA und UdSSR, des Kalten Krieges. Der Wiederaufbau während der dreißig «glorreichen» Nachkriegsjahre, wie sie in Frankreich genannt werden – in Deutschland spricht man vom «Wirtschaftswunder» –, brachte Westeuropa eine gewisse Stabilität und Wohlstand.

      Die 1970er Jahre mit dem Vietnamkrieg und den Ölpreiskrisen stellten eine Wende dar. Mit der Wahl Ronald Reagans in den USA und Margaret Thatchers in Großbritannien begann die Ära der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik,25 zunächst in diesen beiden Ländern, später aber auch in den meisten anderen westlichen Staaten. Nach dem Fall der Berliner Mauer konnte sich diese Politik ebenso in der ehemaligen UdSSR sowie ihren Ex-Satellitenstaaten durchsetzen. Auch China machte sich diese Wirtschaftspolitik zu eigen; sie ist heute weltweit vorherrschend. Dem amerikanischen Intellektuellen Francis Fukuyama zufolge sollte die weltweite Einführung der neoliberalen Agenda das «Ende der Geschichte» einläuten – eine Zeit, in der nicht nur die liberalen Prinzipien, sondern auch die entsprechenden demokratischen Ordnungen ein weltweites Gleichgewicht und Frieden ermöglichen sollten. Ihm zufolge sollte es mit dem Ende des Kalten Krieges zum internationalen Konsens für die liberale Demokratie kommen.

       Die Manipulation und die Kontrolle der öffentlichen Meinung

      Unsere derzeitige Gesellschaftsordnung basiert auf einer finanzdurchdrungenen Wirtschaft und wird oft als letztes und somit unüberwindbares Stadium der Entwicklung des Kapitalismus dargestellt. Doch was ist davon zu halten? Ist unsere aktuelle Situation charakteristisch für einen Kapitalismus in voller Expansion, dessen Entfaltung die ganze Welt immerwährend mit seinen Wohltaten, einschließlich den demokratischen, beglücken könnte? Das darf wohl bezweifelt werden. Erinnert die gegenwärtige Situation nicht eher an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die westliche Zivilisation von ihrer Überlegenheit

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