Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
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Mit den Möglichkeiten, die die Wissenschaft komplexer Systeme in Kombination mit Data Science und Methoden der Künstlichen Intelligenz derzeit erschließen, eröffnen sich auch der Politik neue Dimensionen. Der gebräuchliche Fachausdruck dafür ist evidence-based governance, evidenzbasierte Politik. Derzeit werden Entscheidungen in der Politik oft subjektiv getroffen, und das aus gutem Grund: Einzelne Menschen, egal wie intelligent sie sind, können die Vielzahl von Zusammenhängen, die in komplexen Systemen und ihren Netzwerken typischerweise auftreten, nicht erfassen. Noch viel weniger können sie die Konsequenzen vorhersehen, die eintreten, wenn sie an solchen Systemen etwas verändern.
Entscheidungsträger haben dank ihrer Erfahrung oft ein gutes Gefühl dafür, was ihre Entscheidungen bewirken könnten. Sobald sie ihre Entscheidungen getroffen haben, können sie aber auch nur darauf hoffen, dass sie auch wie beabsichtigt funktionieren. Bis heute hatten wir praktisch keine Möglichkeit, das Funktionieren von Entscheidungen vorab zu testen oder die zu erwartenden, nicht beabsichtigten Nebenwirkungen systematisch im Voraus sichtbar zu machen.
Die Vision ist, dass in Zukunft Entscheidungsträger auf die digitale Kopie eines Landes als Werkzeug zurückgreifen können, um die Auswirkungen von Entscheidungen, Regulierungen oder Gesetzen virtuell durchzuspielen. Sie können ausprobieren, ob eine Entscheidung wirklich die geplanten Ziele erreichen würde, und ob sie zu unerwarteten Folgen führen würde, an die vorher niemand gedacht hatte.
Wir könnten anhand solcher, digitaler Modelle ein bisschen besser in die Zukunft blicken. Wir könnten besser abschätzen, was passieren könnte, wenn wir dieses tun, oder was passiert, wenn wir jenes tun. Nähern wir uns mit einer politischen Entscheidung oder einer gesellschaftlichen Verhaltensänderung den Klippen, und wenn ja, wie schnell? Oder gehen wir ihnen damit aus dem Weg?
In diesem Zusammenhang ergibt sich ein generelles Problem, dass man sich erst an Maschinen und Algorithmen gewöhnen muss, die Probleme lösen, die selbst Experten eventuell nicht mehr überblicken können. Hier tauchen neue Fragen auf: Sollen Maschinen die Kontrolle über die zentralen Lebensadern unserer Gesellschaft übernehmen? Es geht hier um das unbehagliche Gefühl, Kontrolle und Kompetenz an Algorithmen abzugeben.
Wie können wir sicherstellen, dass wir die Kontrolle über Algorithmen und Daten behalten, Transparenz schaffen und gleichzeitig massiven Missbrauch ausschließen? Grundsätzlich sollte wohl gelten: Was Maschinen besser können als Menschen, sollen auch Maschinen machen, ganz besonders dann, wenn es um so heikle Fragen wie die Sicherheit eines Finanzsystems, der Wirtschaft, der Umwelt oder die des Staates geht.
In der Medizin hat dieses Umdenken bereits eingesetzt. Wir haben uns in kurzer Zeit daran gewöhnt, dass künstliche Intelligenz Tumore besser erkennen kann als die besten Radiologen. Kaum jemand, außer vielleicht Radiologen, hat ein Problem damit. Das zeigt natürlich nicht notwendigerweise, wie gut Maschinen und Algorithmen bereits sind, sondern wie limitiert menschliche Entscheidungen oft sind, denen wir unser Wohlergehen und Leben anvertrauen.
Ein Wort zu Daten und Datenschutz. Im Zuge der Digitalisierung werden Daten heute in ungeheurem Ausmaß erhoben. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Trend abnimmt. Es werden immer mehr. Ob wir es wollen oder nicht, wir müssen mit der Digitalisierung und Big Data leben. Ein riesiges Problem, das mit der Digitalisierung einhergeht, besteht darin, dass es sich bei Daten zum Teil um personenbezogene Daten handelt, die zum Schaden und Nachteil von Personen und Personengruppen verwendet werden können. Viele Unternehmen weltweit verwenden diese Daten, um mit ihnen Profite zu machen. Die entsprechenden Geschäftsmodelle sind zum Teil relativ harmlos, wie etwa Werbung, zum Teil aber unfassbar unethisch und kriminell und reichen von massivem Wahlbetrug bis zu Verhetzung und Erpressung. Der Skandal um Cambridge Analytica im Jahr 2018 hat eventuell nur die Spitze des Eisbergs gezeigt, was an Niederträchtigkeit möglich ist.
Doch Daten haben auch eine ungemein positive Seite. Sie geben uns die Möglichkeit, unsere Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft nachhaltig und drastisch besser zu machen und damit unser Leben angenehmer. Und sie geben uns die einmalige Chance – und davon handelt das Buch – die beiden »großen Probleme« zu lösen. Solchen positiven Nutzen aus Big Data zu generieren, ist zuerst einmal eine Aufgabe der Wissenschaft. Das aus mehreren Gründen.
Die Wissenschaft kann mit Daten umgehen. Seitdem es sie gibt, braucht sie Daten. Ohne sie funktioniert sie nicht. Mit dem gegenwärtigen Datenvolumen kann man in den nächsten Jahren mit einer regelrechten Erkenntnisexplosion rechnen, vor allem in der Medizin, den Sozialwissenschaften und der Wirtschaftswissenschaft.
Die Wissenschaft verfolgt in der Regel keine unmittelbaren kommerziellen Interessen und verwendet Daten in einer Weise, die keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Wissenschaft hält durch ihre ethischen Standards den Datenschutz und Normen ein. Arbeiten mit zweifelhaften Daten beziehungsweise Daten zweifelhafter Herkunft oder Verarbeitung werden in seriösen wissenschaftlichen Journalen nicht akzeptiert.
Die Wissenschaft ist mit an vorderster Front, um bessere Methoden für einen ethischen Umgang mit Daten zu entwickeln, die es erlauben, sie einerseits für den Fortschritt der Gesellschaft positiv nutzen zu können und andererseits den Missbrauch und die Verletzung von Persönlichkeitsrechten auszuschließen. Zum Beispiel durch die Entwicklung von Methoden und Algorithmen der Anonymisierung. Das sind natürlich auch die Ziele und die ethischen Prinzipien, die der Complexity Science Hub Vienna in seiner Arbeit verfolgt.
KAPITEL 2: DIE FASZINIERENDE WELT DER KOMPLEXEN SYSTEME
Wir sind auf dem Weg, so gut wie alle Informationen dieser Welt aufzuzeichnen und zu speichern. Wir wissen aber oft noch nicht genau, was wir damit anfangen sollen. Die Wissenschaft Komplexer Systeme kann helfen, aus Daten nutzbares Wissen zu generieren. Wissen, das wir zukünftig verwenden können, um die großen Probleme unserer Zeit zu meistern.
WAS SIND KOMPLEXE SYSTEME?
Komplexe Systeme bestehen immer aus vielen einzelnen Elementen, die miteinander verknüpft sind und dadurch Netzwerke bilden. So etwa sind wir Menschen als Einzelteile des komplexen Systems »Gesellschaft« miteinander durch unser Familiennetzwerk, das Netzwerk unserer Freunde, das Netzwerk unserer Telefonate und Emails, das Netzwerk unserer Banktransaktionen oder das Netzwerk unserer Feindschaften verbunden.
Es ist eine der faszinierenden Eigenschaften komplexer Systeme, dass sich ihre Einzelteile über die Zeit hinweg verändern können. Sie verändern sich aber meistens nicht einfach so, sondern aufgrund der Netzwerke, in die sie eingebettet sind. Durch die Veränderung der Netzwerke verändern sich die Einzelteile und durch die veränderten Einzelteile verändern sich die Netzwerke.
Im Finanzsystem zum Beispiel sind die einzelnen Elemente die Banken, die mit Netzwerken von Kontrakten, Krediten oder Versicherungen miteinander verbunden sind. Die Eigenschaft einer Bank, zum Beispiel, wie viel Geld sie hat, bestimmt, welche Kontrakte sie in Zukunft eingehen kann. Die Eigenschaft »verfügbare Geldmenge« einer Bank bestimmt, wie das Netzwerk der Kontrakte sich im nächsten Augenblick verändern kann. Das Netzwerk der Kontrakte wiederum bestimmt, wie sich der Reichtum der Banken im nächsten Augenblick verändern wird, denn diese Kontrakte bestimmen den Geldfluss.
Die Quintessenz von komplexen Systemen ist, dass sich die Eigenschaften der Elemente und die Netzwerke zwischen ihnen ständig ändern und sich gegenseitig nach bestimmten Regeln beeinflussen. Der Zustand eines Elements hat Einfluss auf das Netzwerk, und das Netzwerk beeinflusst den Zustand jedes einzelnen Elements. Diese gegenseitige Beeinflussung funktioniert etwa so wie das berühmte Henne-Ei-Problem. Was war vorher da? Henne